Hauptmann Miklosich wird uns durch Frau Stöhr vorgestellt: „Später erzählte sie in erregtem Flüstertone, daß gestern abend in der oberen gemeinsamen Liegehalle … das Licht ausgelöscht worden sei, und zwar zu Zwecken, die Frau Stöhr als >>durchsichtig<< bezeichnete. >>Der Alte<< habe es gemerkt und so gewettert, daß es in der ganzen Anstalt zu hören gewesen sei. Aber den Schuldigen habe er natürlich wieder nicht ausfindig gemacht, während man doch nicht auf der Universität studiert zu haben brauche, um zu erraten, daß es natürlich dieser Hauptmann Miklosich aus Bukarest gewesen sei, dem es in Damengesellschaft überhaupt nie dunkel genug sein könne, - ein Mensch ohne all undjede Bildung, obgleich er ein Korsett trage, und seinem Wesen nach einfach ein Raubtier, - ja, ein Raubtier, … In welchen Beziehungen Frau Generalkonsul Wurmbrand aus Wien zu ihm stehe, das wisse ja >>Dorf<< und >>Platz<<, … am vorigen Dienstag habe er das Zimmer der Wurmbrand überhaupt erst morgens um vier Uhr verlassen, - die Pflegerin des jungen Franz auf Nummer neunzehn, … habe ihn selbst dabei betroffen und vor Scham die gesuchte Tür verfehlt, so daß sie sich plötzlich in dem Zimmer des Staatsanwalts Paravant aus Dortmund gesehen habe …“ (S. 116,26- 117, 19). (1)
Diese Textstelle wirft ein klärendes Licht auf die Herkunft des Namens Miklosich. Angesichts der Freiheit, die ein Dichter bei der Zuordnung von Figuren und ihren Äußerungen und Herkunftsorten hat, finden wir dort scheinbar separat stehende Hinweise auf den Namen. Frau Stöhr, die ihre mangelnde Bildung noch in den anschließenden Zeilen unterstreicht („kosmischeAnstalt “: S. 117, 20 f.), spricht davon, dass Miklosich „ein Mensch ohne all und jede Bildung“ sei. Aus ihrem Munde gesprochen, ist das Gegenteil anzunehmen: Miklosich steht für einen hochgebildeten Mann. Sein Vorname ergibt sich aus dem Namen des Zimmerinhabers Nummer neunzehn, Franz. Wir stoßen somit auf den Namen Franz Miklosich: Franz von Miklosich (1813 – 1891) „gilt heute als Begründer der modernen Slawistik, aber auch als bedeutender Erforscher und Lexikograph des Rumänischen, Albanischen und der Roma – Sprache.“ (2) Damit wird auch klar, warum die Romanfigur aus Bukarest stammt und als Geadelter (Ritter) keinen Vornamen, sondern einen Titel (Hauptmann) bekommt. Wien war das Zentrum seiner beruflichen und politischen Tätigkeit: Dekan und Rektor der Universität Wien, Abgeordneter des österreichischen Reichsrats. Ob Franz von Miklosich tatsächlich ein Mann „mit Hakennase, gewichstem Schnurrbart, erhabener Brust und drohenden Augen“ war (S. 353, 1 f.), kann hier nicht entschieden werden.
Nun ist die Verwendung von Namen bedeutender Persönlichkeiten nicht ungewöhnlich im „Zauberberg“ (z.B. Vergil, Augustinus, Dante). Die Wahl des Namens von Miklosich folgt dem Anspruch des Romans auf geographische und kulturelle Weite.
Es bleiben allerdings Bedenken. Miklosich wird als „Raubtier“ bezeichnet, „dem es in Damengesellschaft überhaupt nie dunkel genug sein könne“. Nach Settembrini soll sich Frau Stöhr mit Hauptmann Miklosich verlustiert haben (S. 231, 3 – 17). Auch wird später die Frage gestellt, „mit wem Frau Generalkonsul Wurmbrandt aus Wien sich für die Flatterhaftigkeit des Hauptmanns Miklosich schadlos halte“ (S. 359, 24 f.).
Passt die Charakterisierung, die Miklosich im Roman erfährt, zu einem Mann der Wissenschaft wie Franz von Miklosich, der eine vierbändige „Vergleichende Grammatik der slawischen Sprachen“ schreibt (3), der ohne nachweisbare biografische Eskapaden lebt? Oder soll der unbescholtene Miklosich nur der Aufhänger sein für einen anderen? Eine Antwort auf die Frage, wem diese Charakterisierung gilt, könnte sich aus dem Traum Hans Castorps ergeben. Castorp verarbeitet die Schilderung von Frau Stöhr so:
„Unter solchen Abenteuern und Entdeckungen verging die Nacht, und auch Hermine Kleefeld sowie Herr Albin und Hauptmann Miklosich, welcher letzterer Frau Stöhr in seinem Rachen davontrug und von Staatsanwalt Paravant mit einem Speer durchbohrt wurde, spielten ihre verworrene Rolle dabei “ (S. 141, 23 – 27).
Man ist geneigt, solche Stellen, vor allem wenn sie mit Träumen in Verbindung stehen, nur allegorisch zu deuten. Hier ist es dann der ägyptische Gott RA (Paravant, s.o.), der einen Dämon erlegt. Frau Stöhr, „die alte Baubo“ (Settembrini, S. 495, 8), findet sich als Schandmaul mit Recht im Rachen des Raubtiers.
Diese Stelle ist nicht nur allegorisch auszulegen, sondern „wörtlich “ zu nehmen:, also auf der ersten semantischen Ebene: Der Staatsanwalt durchbohrt den Hauptmann. Ferner fällt die Zusammenstellung der Namen auf: Hermine Kleefeld – Herr Albin – Hauptmann Miklosich – Frau Stöhr. Die „Herrenform“ von Hermine heißt Hermann. Die besondere Rolle Frau Stöhrs in diesem Zusammenhang wird jetzt verständlich: Ihr Name Stöhr weist phonetisch auf den aus Schlesien stammenden Dichter Hermann Stehr (1864 – 1940) hin, den langjährigen FreundGerhart Hauptmanns.
Sollten sich also die Aussagen der „Zeugin“ Stöhr nicht auf Miklosich beziehen, sondern auf den durch Peeperkorn im „Zauberberg“ zur Genüge bekannten Dichter (Gerhart) Hauptmann (1862 – 1946)? (4). Dann müssten die geschilderten Eigenschaften wenigstens andeutungsweise auf ihn zutreffen. Seine Biographie hat – nicht nur beruflich - „flatterhafte “ Phasen: Hauptmann ließ sich im Sommer 1904 scheiden und heiratete im September Margarete Marschalk. 1905/6 (und weiter) hatte Hauptmann eine Liebesepisode mit der anfänglich erst 16-jährigen Schauspielerin Ida Orloff. Gerhart Hauptmann ist 43 Jahre alt. (5) Ein skandalöser Vorfall, der eigentlich den Staatsanwalt auf den Plan rufen sollte?
Der Blick auf eine gleich strukturierte Episode schafft Aufklärung. Es sind die Geschichten von Rechtsanwalt Einhuf aus Jüterbog (S. 450, 17 – 451, 25; sonst S. 491, 31). Dort lassen sich Transfersignale erkennen. Das Wort über den „Liederjahn“ führt wiederum Frau Stöhr (S. 450, 24 ff.; 451, 23 ff.), Es wird bekannt, „daß Rechtsanwalt Einhuf an Fränzchen Oberdank wie ein Schurke gehandelt habe“ (S. 451, 14 – 17) Fränzchen ist ein „Haustöchterchen“ (S. 451, 1), also jung wie der “ junge Franz “ (S.117, 15). Fränzchen ist „glattgescheitelt“ wie Ida Orloff. (6) Frau Stöhr wird wie oben anschließend (ausführlich) in ihrer Unbildung geschildert (S. 451, 23 - 453, 17). Rechtsanwalt Einhuf ist beruflich mit Staatsanwalt Paravant verbunden (und mit Mirkosich, Dr. jur. und zunächst in einer Anwaltskanzlei). Mit Gerhart Hauptmann teilt Einhuf das Alter („ Vierziger“, S. 450, 19). Der „Einhuf“ hat „schwarzbehaarte Hände“ (S. 450, 19) und wird „auf der Wiese gefunden“ (S. 450, 23) – der Vergleich mit einem Tier. „Einhuf“ (7) und „Wiese“ lässt darüber hinaus an das ländliche Anwesen Gerhart Hauptmanns „Wiesenstein“ in Agnetendorf denken, das er ab 1901 bewohnte, ein Ort wackerer Zechereien ( „betrunken“ ,S. 450, 21 ff.). Der Name Jüterbog ist slawischen Ursprungs (8), ein Hinweis auf Miklosich und die vorhergehenden Stellen.
Auch die Romanfigur Einhuf verweist also auf Gerhart Hauptmann und noch konkreter auf seine Liebesgeschichte mit einem jungen Mädchen. Aber die Berghof – Gesellschaft schwächt den möglichen Vorwurf ab und gibt „achselzuckend zu verstehen, daß zu solchen Geschichten ja zweie gehörten, und daß vermutlich nichts gegen Wunsch und Willen eines Beteiligten geschehen sei. Wenigstens war dies Frau Stöhrs Verhalten und sittliche Stimmung in fraglicher Angelegenheit“ (S. 451, 21 – 25).
Welche Quelle wurde hier in der Attacke gegen Gerhart Hauptmann benützt? Ein „Raubtier“ trägt Frau Stöhr „in seinem Rachen“ davon. Diese Formulierung führt zu Psalm 22. Dort heißt es (Vers 21, Lutherübersetzung): „Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern“. Das Raubtier ist dann der „Löwe“ Gerhart Hauptmann - es gab auch einen eingemauerten Löwen am Treppenaufgang in Wiesenstein (9). Rechtsanwalt Einhuf befindet sich unter den Einhörnern. Im Psalm wird der Beter gerettet, in Castorps Traum Frau Stöhr, nicht aber die junge Ida Orloff: Sie bleibt die „Hindin, die frühe gejagt wird“ (Psalm 22, Vers 1) – von Gerhart Hauptmann.
Anmerkungen:
1. Die Zahlen in Klammern (Seite, Zeilenangabe) verweisen auf Thomas Manns Der Zauberberg, Bd. 5/1(Textband) -2(Kommentarband) – M. Neumann - der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. Hervorhebungen durch Fettdruck vom Autor. 2. Katja Sturm-Schnabl, Franz Miklosich – ein „Europäer“ im 19. Jahrhundert. Kurzfassung www.inst.at/studies/s_0104_d.htm 3. Zur Biographie und wissenschaftlichen Veröffentlichungen: http://agso.uni-graz.at/marienthal/bibliothek/biografien/07_04_Miklosich_Franz _von_Biografie.htm 4. Vgl. die im Kommentarband gegebenen Hinweise : S. 502, s.v. „Hauptmann, Gerhart“. 5. Zur ersten Orientierung: Gerhart Hauptmann, dargestellt von Kurt Lothar Tank, rowohlts monographien 50027, 28. Aufl. 2006. 6. Bild von Ida Orloff in der genannten Biographie, S. 110. 7. Wahrig, a.a.O., S. 392: „Einhufer… Huftier, bei dem die Zehen bis auf die mit einem Huf versehene mittlere Zehe verkümmert sind “. Aber auch S. 661: „Hufe … dem Bedarf einer Familie entsprechender Anteil des Bauern an der Gemeindeflur, 15 – 60 Morgen; altes Feldmaß, 1700 a“. 8. Vgl. www.wikipedia.de, s.v. „Jüterbog“ und gängige Lexika. 9. Biographie, S. 19.