Der vorhergehende Beitrag über Hauptmann Miklosich legt nahe, dass der Name Stöhr auf den langjährigen Freund Gerhart Hauptmanns, den schlesischen Dichter Hermann Stehr (1864 – 1940) hinweist. Nun gibt es neben der dort behandelten Stelle (S. 116, 26 – 117, 19) eine weitere, die Frau Stöhr unmittelbar mit Hauptmann Miklosich in Verbindung bringt (S. 230, 4 – 231, 17) (1). Die bisherigen Ergebnisse könnten hier eine Bestätigung finden.
Settembrini erzählt über Frau Stöhr „Geschichten von Doppelgängerei, Astralleibern…“ (S. 230, 5 f.).„Sie sind doppelt! Jedenfalls waren Sie eingeschlafen, und während der irdische Teil Ihres Wesens einsam Liegekur machte, erlustierte sich der spirituelle in der Gesellschaft des Hauptmanns Miklosich und an seinen Baisers….“ Frau Stöhr wand und sträubte sich, wie jemand, den man kitzelt. „Man weiß nicht, ob man das Umgekehrte wünschen soll“, sagte Settembrini. „Daß Sie die Baisers allein genossen und die Liegekur mit dem Hauptmann Miklosich ausgeübt hätten … .“ „Hi, hi, hi …“. (S. 231, 7 – 17). Herr Stöhr wird dem Leser zweimal ins Gedächtnis gerufen (S. 230, 19.33).
Nun hat sich der Schriftsteller Hermann Stehr dem Thema der Spiritualität, „mystischer Erhöhung und innerer Neugeburt“ besonders gewidmet. (2). In seinem bedeutendsten Roman „Der Heiligenhof“ (1918) etwa soll das blinde Kind der Sintlinger („die kleine Hübelheilige“) auf der Heimfahrt von der Kirche von der Seite der Mutter entrückt worden sein, „nicht anders, als ein Schatten oder ein schwerer Seufzer uns entschwindet. Als der Wagen aber am Zufahrtswege ankam, sei das Lenlein lachend und singend …der zu Tode erschreckten Mutter entgegengelaufen“ (Heiligenhof, S. 172, 23 – 29) (3).“Ich habe kein Kind, ich habe einen Engel“, sagt ihr Vater (Heiligenhof, S. 30, 22), der sich unter dem Eindruck der übersinnlichen Kräfte seiner Tochter fast zu einem Heiligen wandelt.
Settembrinis Geschichte über Frau Stöhr bewegt sich also thematisch in der Welt der Romane Hermann Stehrs. Unterstrichen wird diese Nähe Frau Stöhrs zu übersinnlichen Dingen im „Zauberberg“ noch dadurch, dass Frau Stöhr als Erste auf das Erscheinen des toten Joachim Ziemßen reagiert (S. 1031, 33 ff.).
Wir können also festhalten, dass hier der Name Stöhr, – losgelöst von dem Attribut der Dummheit Frau Stöhrs -, nicht nur phonetisch auf (Hermann) Stehr verweist, sondern im Kontext auch auf das Hauptthema seiner Werke. Lesen wir nun in der oben zitierten Passage Stöhr als Stehr und Hauptmann Miklosich als Hauptmann, ergibt sich, dass Hermann Stehr mit Gerhart Hauptmann angeblich Baisers, also entweder „Schaumgebäck aus Eischnee u. Zucker“ oder „Küsse“ genießt (4). Nach dem Verhältnis Gerhart Hauptmanns zu Ida Orloff wird an unserer Stelle also das „Verhältnis“ zu Hermann Stehr aufs Korn genommen. Aber nicht nur dieses. Passend fügt sich die Erklärung des Vornamens von Frau Stöhr an (vgl. oben „Herr Stöhr“):
Caroline ist die weibliche Form von Carolus = Carl. Bekanntlich ist Carl der dichtende ältere Bruder Gerhart Hauptmanns und ihm herzlich in Streitigkeiten verbunden. Es sind also Carl und Stehr, auf die der Name Caroline Stöhr hinweist. Sie genießen lebenslang unter Turbulenzen Schaumgebäck oder Küsse in Agnetendorf bei Gerhart Hauptmann.(5)
Anmerkungen:
1. Die Zahlen in Klammern (Seite, Zeilenangabe) verweisen auf Thomas Manns Der Zauberberg, Bd. 5/1(Textband) -2(Kommentarband) – M. Neumann - der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. Hervorhebungen durch Fettdruck vom Autor.
2. Geschichte der deutschen Literatur von W. Grabert und A. Mulot, Bayerischer Schulbuchverlag, 15. Aufl., 1971, S. 389.
3. Hermann Stehr, Der Heiligenhof, Volksausgabe 1957 Droemersche Verlagsanstalt München
4. Wahrig, a.a.O., S. 231, s.v. „Baiser“.
5. Vgl. Anna Stroka, Gerhart Hauptmanns Beziehung zu seinem Bruder Carl und zu Hermann Stehr: www.orbis-linguarum.net/2004/24_04/strokagot.pdf