Spuren im „Zauberberg“: Knut Hamsun, Mysterien (1892)
Der Protagonist des Romans „Mysterien“, Johan Nilsen Nagel, ist sehr aktiv. Nagel kommt in eine geschlossene Gesellschaft eines kleinen norwegischen Städtchens hinein und sieht seine Aufgabe darin, das dortige spießbürgerliche Leben („Kuhdorf“: M 123, 30; „Krähenwinkel“: M 170, 4; 322, 33; ) durcheinanderzubringen: „Und ich habe meine Aufgabe gut gemacht, ich habe euch eine Menge außerordentlich reichhaltigen Gesprächsstoff gegeben und euer Leben in Unordnung gebracht, ich habe eine bewegte Szene nach der anderen in euer ehrsames Blinddarmdasein gepflanzt“ (M 323, 19 – 23; vgl. auch 5, 5; 74, 36 f.;75, 13 ff. 20.33; 76, 7 ff.; 121, 1 f.; 163, 19 – 27; 177, 3 – 11; 209, 15 f.; 237, 27 – 238, 22; 273, 26 ff.;“ Ausländer des Daseins“ : 276, 31; 278, 28 f.; 296, 32 f.). (1)
Castorp dagegen passt sich an: Die Hausregeln hat Castorp „am Schnürchen“ und beobachtet sie „ganz genau“ (Zb 295, 33 f.). (2) An eigenständigen Aktionen sind der Spaziergang (Zb 178, 30 – 190, 20), die sportlichen Übungen auf den Schneeschuhen und die Schneefahrten selbst zu nennen (Zb 713, 5 – 750, 29). Dazu kommen noch die Besuche bei Moribunden. Ging es also gegenüber dem Icherzähler in Hamsuns Roman „Hunger“ um den Gegensatz wohlhabend/satt - arm/hungrig , so wird jetzt Castorp in den Gegensatz Anpassung – Authentizität hineingestellt.
Es sollen hier wiederum einzelne Vergleichspunkte herausgestellt werden, die zum Teil schon bei der Behandlung des Romans „Hunger“ aufgeführt wurden. Das Auftreten gleicher Elemente bedeutet natürlich nicht von vornherein eine Abhängigkeit. Geht es etwa um ein Sanatorium, gibt es eine ganze Reihe von Requisiten, die sich schon von der Sache her nahelegen. Aber sie können eben auch als „Merkposten“ aus einem vorherigen Roman „vorsortiert“ übernommen sein.
Nagel wird im Zimmer Nummer 7 einquartiert (M 14, 20; 35, 12 f.; 126, 7). Der Assessor verspricht Minute einen Mantel unter sieben Zeugen (M 17, 18 – 21). In Nagels Traum tauchen Gruppen von sieben Engeln auf (M 112, 25 – 32). Minute ist 43 Jahre alt (M 26, 20: Quersumme „Sieben“). Dass Thomas Mann im „Zauberberg“ die ursprüngliche Nummer 43 des Zimmers von Castorp in 34 änderte (Zb 22, 19), hat hier seinen Grund. (3) Die Quersumme „Sieben“ bleibt auch so für die Antwort Holgers erhalten (Zb 1008, 11 – 17).
Warum im Restaurant die Dame mit dem Buch „vor sich hin summte“ (Zb 26, 11 f.), lässt sich von den „Mysterien“ her erklären. Nagel kommt in heiterer Stimmung in den Speisesaal und summt ein wenig vor Freude (M 280, 27; 280, 14: Auch die Fliegen summen schon.). Dies erregt das Missfallen von zwei anwesenden Gästen, die sich über Politik und Wirtschaft unterhalten (M 280, 4 – 281, 6). Der „Zauberberg“ verlagert die gute Stimmung Nagels auf Castorp und Ziemßen (Zb 28, 4 – 11). Auch sie sprechen über Politik (Zb 28, 11 – 20: „Elbregulierung“). Die „summende, pochende Dame“ steht plötzlich auf und geht (Zb 28, 6 f.). Auch Nagel verlässt den Speisesaal, die beiden Gäste sind noch da (Zb 280, 18). Diese Szene hat ihr Vorbild in den „Mysterien“.
Minute ist Invalide (M 11, 36 f.; 15, 12; 21, 7 f.; 27, 16; 136, 15 f.; 138, 34; 212, 17 f.; 293, 19 f.) und Zwerg (M 286, 24). Der Name Minute wird ihm in der Taufszene gegeben (M 140, 5 – 141, 18), ein Merkposten für die Taufe im „Zauberberg“ (Zb 39, 18 – 40, 9).
Castorp regt sich darüber auf, dass die Wände so dünn sind, dass man alles hört (Zb 64, 11 -14). Johan Nagel untersucht bei seinem Einzug in das Hotel die Wände, „wie dick sie seien und ob man etwas aus den Nebenzimmern hören könne“ (M 6, 23 ff.; 150, 17; 301, 30 – 33; 301, 30 - 33).
Eine Flaggenstange trägt manchmal eine „Phantasiefahne, grün und weiß, mit dem Emblem der Heilkunde, einem Schlangenstab in der Mitte“ (Zb 62, 12 – 16; 121, 23 f.). Eine „Phantasiefahne“ wird sie wohl deshalb genannt, weil das Sanatorium „Berghof“ eher der Gewinnmaximierung verpflichtet ist. In den „Mysterien“ wird zur Verlobung, Geburtstag, Mitsommernacht, vermeintlich zur Genesung Minutes geflaggt (M 5, 16 – 19; 28, 11 – 25; 30, 16 – 25; 38, 1 – 7; 64, 21 ff.; 65, 9 – 13; 101, 26 f.; 169, 34 ff.; 206, 3 - 8). Das Flaggen hat dort also ein besonderes Gewicht. Nun wird der Abschnitt „Herr Albin“ mit dem Flaggenmotiv eröffnet (Zb 121, 23 f.). Dies ist ein Hinweis darauf, dass Nagel bei der Ausgestaltung der Figur Albin Pate gestanden hat. Albin reklamiert für sich „ein bißchen Ungebundenheit“ (Zb 124, 24), die Nagel überreich für sich beansprucht. Castorp versetzt sich in Herrn Albins Zustand und stellt sich vor, „wie es sein müsse, wenn man endgültig des Druckes der Ehre ledig“ wäre (Zb 125, 21 ff.). Albin holt im „Zauberberg“ zunächst ein Messer („Mordding“: Zb 122, 2), das besonders scharf ist (Zb 122, 9.12 ff.). In den „Mysterien“ ist das Messer stumpf (M 13, 34 ff.). Anschließend holt Albin einen mit sechs Patronen geladenen Revolver, um den Damen der Liegehalle mit einem möglichen Selbstmord zu imponieren und führt die sichere Handhabung vor (Zb 122, 16 – 124, 2). Nach seinem missglückten Selbstmordversuch mit „Gift“ denkt Nagel an einen „kleinen sicheren, sechsschüssigen Revolver“ (M 295, 18 – 24).
Die Farbe Gelb wird reichlich in den „Mysterien“ verwendet: M 5, 15 f. 21; 14, 19 f.; 29, 6; 41, 28; 50, 11; 97, 7; 124, 5 – 34; 138, 37; 139, 5; 169, 32; 174, 25; 229, 11.30; 231, 22; 237, 25; 246, 16; 322, 18; 328, 23. Eine Erklärung gibt der Roman selbst: Nagel findet nur deshalb Aufmerksamkeit, „weil er ein Fremder in dieser Stadt war und eine gelbe Kluft anhatte“ (M 237, 24 f.). Settembrinis „hellgelblich“ karierte Hosen (Zb 88, 19) betonen das Komödiantische und den Signalcharakter der Farbe Gelb. Krokowskis „gelbe Zähne“ sind eine Ergänzung zu seinem Namen. ( vgl. Beitrag „Forschungsreisende im „Zauberberg“: Knud Rasmussen, Sven Hedin").
Nagel „ bemerkt, daß eines seiner Schuhbänder aufgegangen ist, und er bleibt stehen, stellt den Fuß auf einen Mooshügel und knüpft es zu“ (M 287, 31 ff.). Behrens führt öfters das Kunststück mit seinem Schnürstiefel vor:„er setzte seinen gewaltigen Fuß auf eine höhere Stufe… ( Zb 172, 12 – 19; weitere Stellen: 353, 18 f.; 383, 13). Sehr oft richtet sich der Blick im Roman „Mysterien“ auf die Schuhe: M 32, 26; 44, S. 44, 5 ff.; 46, 6 f.; 50, 5 f.; 72, 18 - 21; 110, 22 f.; 145, 35; 282, 24; 297,20; 300, 13 ff.; 300, 34 – 301, 1; 324, 13 – 19). Dies ist gut zu erklären bei Hamsun, der fünf Monate in einer Schuhmacherlehre war (4).
Der von Hippe ausgeliehene Bleistift wird im „Zauberberg“ von Castorp gespitzt und die Schnitzel werden im Pult aufgehoben (Zb 188, 17 – 22).Mit was Castorp den Bleistift spitzt, wird weggelassen. In Hamsuns Roman „Hunger“ und „Mysterien“ taucht ein Federmesser auf (H 48, 29 f.; 49, 18; 69, 26; M 12, 21 f.; Messer M 13, 24). (5) In den „Mysterien“ ist expressis verbis vom „Anspitzen des Bleistifts“ mit dem Messer die Rede. Darüber hinaus wird die Bedeutung des Federmessers erweitert.Das Messer, das in der Nähe der Leiche Jens Karlsen in Hamsuns „Mysterien“ gefunden wird, ist ein Federmesser (M 12, 36; 12, 21 f.). Dieses Federmesser ist nach Aussage des Wirts die Tatwaffe zum Selbstmord (M 12, 25 – 33), auch wenn, um die Bestattung in geweihter Erde zu ermöglichen, ein Unglücksfall hineininterpretiert wird: „Nun denkt man sich, daß er das Messer zum Anspitzen des Bleistifts oder derlei benutzt hat, und dann soll er vornübergestürzt sein und sich zuerst genau in die Pulsader des einen Handgelenks ein Loch gestochen haben, danach genau in die Pulsader des anderen Handgelenks, alles im selben Sturz. Hahaha" (M 13, 24 - 29; 36, 1 - 5).