„ Es war eine dünn und fließend gekleidete, etwas rätselhafte Blondine, welche, die Hände an der linken Schulter gefaltet – und zwar nicht fest gefaltet, sondern nur so, daß die oberen Fingerglieder schwach ineinander lagen – ihre Augen entweder gen Himmel gerichtet oder tief niedergeschlagen und unter den langen, schräg von den Lidern abstehenden Wimpern versteckt hielt: nur geradeaus und dem Beschauer entgegen blickte die Selige niemals“ (Zb 388, 4 – 13). Dieses Bild verweist auf die Erscheinung Sophias, also auf die Schwester Ellens (Zb 999, 33 – 1000, 15). Auch Sophia hat „die Hände an der Schulter gefaltet“ (Zb 1000, 6), ist sichtbar „wie eine fließende Strömung heißer Luft“ (Zb 1000, 11 f.).
Student Parelius kann aber auch Klavierspielen (R 220, 7ff; 259, 19 – 35; 327, 40 f.; 343, 16 – 19; 358, 11 - 16). Das Lieblingsstück von Parelius ist die A-Dur-Sonate Mozarts (R 259, 20 f.; „Mozartflügel“: B 56, 2). Die Frau des Leuchtturmwächters Schöning spielt Klavier.
Frau Schöning ist „aus einem feinen Haus und eine geborene Brodtkorb“ (B 56, 11). Erstaunlich ist die Nähe zum Namen Castorp, einem unserer Ansicht nach „geborenen“ Brotsack.
Frau Schöning antwortet bescheiden auf die Frage nach ihrem Klavierspiel, dass sie es nicht mehr versucht habe seit ihrer Jugend (B 56, 29 f.). Castorp hat sich seiner Kunstrichtung gemäß im Malen „früher “ versucht (Zb 387, 4 -8; 395, 7 ff.).
Klavierspielen verbindet Parelius mit Wehsal aus Mannheim im „Zauberberg“. Wehsal spielt Klavier, „meistens den Hochzeitsmarsch aus dem >>Sommernachtstraum<<“ (Zb 318, 24 f.; 932, 20 f.). Es lässt sich erklären, warum Wehsal aus Mannheim ist. In der alten Musikstadt Mannheim hat sich Mozart länger aufgehalten. Bedenkt man, dass Klavierspielen im Roman „Rosa“ von einem „echten“ Mann (Munken Vendt) und von der Baronin als „weiblich“ eingestuft wird (R 327, 139 ff; vgl. auch R 343, 16 – 19), unterstreicht der Name Mannheim ironisch den „unmännlichen“ Charakter Wehsals. Weitere Assoziationen verbieten sich allerdings.
Die oben genannte „Abwertung“ des Klavierspielens in Hamsuns Roman „Rosa“ kann erklären, warum gerade Wehsal Klavier spielt. Diese ist aber nicht der alleinige Grund, warum Castorp nicht Klavier spielt. Das zweite Standbein des Studenten Parelius bleibt auch bei Castorp nicht unberücksichtigt: Castorp bedient im „Zauberberg“ das Grammophon (Zb 968, 17 -30).
Woher kommt dieser Einfall?
Die folgende Textstelle hilft uns weiter. Benoni will seiner (zukünftigen) Frau Rosa ein Klavier schenken und fragt am Weihnachtsabend (B 49, 13) Mack nach dem Preise seines Klaviers:
„Aber Mack schüttelt den Kopf, an einem solchen Abend kennt er keine Klavierpreise. Es wird schon etwas kosten. Meine Stammväter fragten nicht nach dem Preis, wenn sie nur das bekamen, was sie haben wollten. Drüben in der Kleinstube steht ein Nähtisch aus Rosenholz, er ist mit Silber und Ebenholz eingelegt, den solltest du dir einmal ansehen“ (B 62, 8 – 14). Hamsun bringt Klavier und Nähtisch zusammen, um Mack sagen zu lassen, Benoni solle sich eher um die Beschaffung eines Nähtisches für seine Frau kümmern als um ein Klavier.
Die Verbindung Klavier und Nähtisch erfolgt nicht nur hier, sondern prägt sich dem Leser durch weitere Stellen ein (B 76,7: 92, 1 f.; 103, 14). (6)
Thomas Mann nimmt nun das Musikinstrument Klavier zum Wegzeiger und kommt über den Nähtisch zur Assoziation „Grammophon“. Er weist dabei Castorp eine von Parelius herkommende musikalische Betätigung zu.
Dass man bei einem Nähtisch an Nadeln denkt, ist naheliegend. So nimmt Behrens auch „aus einem der auf dem Tischchen angeordneten buntfarbigen Blechbüchschen eine Nadel“ und befestigt sie (Zb 965, 26 ff.). Der Nähtisch ist aus Rosenholz. Rosenholz wird auch bei der Herstellung von Gitarren verwendet. Das Gehäuse des Grammophons ist aus „Geigenholz“ (Zb 974, 6). Es wird im „Klaviersalon aufgebaut“ (Zb 964, 13; hier nicht „Hauptgesellschaftsraum“ genannt: Zb 964, 2).
Das Gespräch zwischen Benoni und Mack über das Klavier findet am Weihnachtsabend statt (B 49, 13). Warum übergibt Behrens das Grammophon nicht an Weihnachten der Berghofgesellschaft, zu einem passenden Zeitpunkt und einfach zu begründen?
Die Motivation für die Einführung des Grammophons im Roman ist etwas gesucht: „ Es handelt sich um eine Vermehrung der Unterhaltungsgeräte des Hauptgesellschaftsraumes, aus nie rastender Fürsorge ersonnen … “ (Zb 964, 1ff.). Der Vorteil, das Grammophon an dieser späten Stelle des Romans einzuführen, liegt auf der Hand: Nach dem Tode Peeperkorns, der neuen Diagnose über Castorps Krankheit und Clawdias Chauchats Weggang (Zb 951, 8 – 12) ist Thomas Mann und Hans Castorp auf dem „toten Punkt angekommen“ (Zb 951, 2). Aus dem großen „Stumpfsinn“ führt sie das Grammophon mit seinen musikalischen Genüssen wieder heraus. Für den Schriftsteller und Hans Castorp eröffnet sich damit ein neues Feld (7).
Aber es ist nicht nur das Malen und Klavierspielen, das die Romanfigur Parelius mit Castorp und Wehsal verbindet. Auch sein Liebesverhältnis zu Rosa wird für Castorp und Wehsal ausgedeutet. Parelius beschreibt seinen Zustand: „Aber da saß nun ich, und was sollte ich aus mir machen? Ich wurde immer weniger und weniger, dichter und dichter zogen sich meine Gedanken um dieses eine Menschenkind zusammen. Warum stand ich nicht auf und ging? Eine entsetzliche Hoffnungslosigkeit ließ mich alles vergessen, ich hörte, daß ich etwas sagte und daß Rosa fragte: Wie? „ Ach, ich besaß keinen bitteren und starken Stolz mehr, meine Erbärmlichkeit war ein Zustand, aber ich machte sie zu einer Stellung, ja, zu einem Lebenszweck, ich wurde wie Jens Kindsvater, wenn er um Knochen bettelte“ ( R 391,37 – 392,6).
Diese Linie führt zu Wehsal (Zb 318, 14 – 320, 3). Sein Blick ist „scheu und zudringlich bis zum Hündischen“ (Zb 318, 33 f.). Er fühlt „bettelhafte Qualen“ (Zb 932, 33), „winselt“ (Zb 934, 9; 935, 25), sein „Leib muß sich winden ewiglich“ (Zb 934, 30 f.; 935, 9 f.). Auch Castorp befindet sich zeitweise in erbärmlichem Zustand (z.B. Zb 362, 9 – 16), macht aber aus seinem Herzen keine Mördergrube (Zb 359, 5 – 11). Wie Parelius gesteht er der Geliebten seine Liebe (Zb 517, 30 – 33; 518, 20 ff.; R 287, 22 – 31; 349, 10 - 350, 16; 364, 27 f.; 406, 20 f.).
Wie differenziert sich Thomas Mann von Hamsun anregen lässt, zeigt eine weitere Stelle. Hier wird die Weiterentwicklung eines vorgegebenen Motivs nicht durch Synästhesie, wie bei Klavier und Nähtisch erreicht, sondern dadurch, dass ein metaphorischer Vergleich zur metaphorischen Prädikation umgewandelt wird.
Der Leuchtturmwächter im Gespräch mit dem Icherzähler Parelius:
„Sie finden mich gewiß ungewöhnlich dumm? Nein, Sie sind sicherlich klüger als ich verstehe. Ganz richtig! sagte der Leuchtturmwärter. Und außerdem: das Leben muß wie eine Frau behandelt werden. Muß man nicht galant gegen das Leben sein und es gewinnen lassen? Man soll sich bescheiden und alle Schätze liegen lassen“ (R 226, 36 – 227, 2). (8)