Spuren im „Zauberberg“: Knut Hamsun, Segen der Erde (1917)
Die Frage, warum der Widerpart von Settembrini im „Zauberberg“ ein Jude ist, lässt sich aus Hamsuns Roman „Segen der Erde“ beantworten. Auch die Namen Elia und Leo Naphta („Brand“) sind von dort aus zu erklären. (1)
Hierfür sind zunächst zwei Textstellen heranzuziehen:
Isak, die Hauptfigur des Romans, unterrichtet seine Kinder selbst: „ Ein anderes Mal, als er ihnen von dem Glanz der Engel berichtete, sagte er, die Engel hätten die Sterne statt Beschlägen an die Absätze ihrer Schuhe genagelt. Das war ein guter, treuherziger Unterricht, der auf die Ansiedlung paßte, der Schullehrer im Dorf drunten würde darüber gelächelt haben; Isaks Kinder dagegen nährten ihre Phantasie ziemlich stark damit. Sie wurden für ihre eigene Welt erzogen und unterrichtet, was hätte besser sein können! Beim Schlachten im Herbst waren die Jungen höchst neugierig; für die Tiere, die geschlachtet werden sollten, hatten sie große Angst, und ihre kleinen Herzen waren tief betrübt. Da mußte nun Isak mit der einen Hand das Tier festhalten und mit der anderen zustechen, und Oline rührte das Blut um. Jetzt wurde der alte Bock herausgeführt, weiß und bärtig war er, die beiden kleinen Burschen standen an der Hausecke und guckten hervor… Als der Bock gestochen war, trat Isak zu seinen Kindern und gab ihnen folgende Lehre: Ihr sollt nie ein Schlachtopfer bedauern und nicht armes Tier sagen. Denn sonst wird es nur lebenszäher. Vergeßt das nicht!“ (SdE 79, 39 – 80, 20).(2)
Oline berichtet Axel und Isak von dem Eindruck, den sie von der neuen Mähmaschine hat: „Und das ist wahr, Isak, diese Maschine, die du hast, ist fast mehr, als meine alten Augen fassen können. Und was sie gekostet hat, danach will ich lieber gar nicht fragen, so hoch kann ich gar nicht zählen. Wenn du sie gesehen hast, Axel, dann weißt du, was ich meine, es war mir, als sähe ich Elias in seinem feurigen Wagen, Gott verzeih mir die Sünde…“ (SdE 196, 26 – 32).(3)
Mit diesen beiden Stellen ist der Abschnitt über Leos Vater Elia zu vergleichen (Zb 663, 1 – 665, 13).
Elia hat „Sternenaugen“ (Zb 664, 21; 663, 14. 31; 664, 5 f.). Das Schlachten des Tieres durch Isak wird bei Elia zu einer rituellen Handlung nach den Vorschriften des Talmud. Die „feierliche Mitleidlosigkeit im Brauche des Vaters“ (Zb 664, 12 f.) ist vorweggenommen in der Ermahnung Isaks an seine Kinder, Schlachtopfer nicht zu bedauern.
Die Weiterentwicklung zum jüdischen Ritus aus der „Vorform“ bei Hamsun ist offensichtlich. Es ist aber nicht nur das Schlachten und der Vergleich Isaks mit Elias, der hier auf den Namen Elia im „Zauberberg“ verweist. Auch die bei Hamsun schon herausgestellte (biblische: 2.Könige 2, 11 f.) Verbindung Elias und Feuer findet sich im „Zauberberg“. Dort wird von einem schrecklichen Ende des Elia Naphta berichtet: „ … mit Nägeln gekreuzigt, hatte man ihn an der Tür seines brennenden Hauses gefunden“ (Zb 665, 8 f.).
Führt der Name Isak über seinen „Beinamen“ Elias zum Elia im „Zauberberg“, so darf man dies auch bei dem Namen seines Kindes Leopoldine tun: Bekanntlich trägt der Sohn des Elia im „Zauberberg“ den Vornamen Leo. Offensichtlich ist der Name Leo von Leopoldine inspiriert. Zusätzliches Indiz dafür ist, dass der Name Leopoldine unmittelbar nach unserer Hauptstelle (SdE 79, 39 – 80, 20) eingeführt wird. Die Frau Isaks, Inger, schreibt aus dem Gefängnis: „Ihr kleines Kind sei jetzt ein großes Mädchen, sie heißt Leopoldine nach dem Tag ihrer Geburt, dem 15. November“ (SdE 80, 24 ff.).
Sollten nicht nur die Vornamen Elia und Leo im „Zauberberg“ aus dem Roman Hamsuns heraus zu erklären sein, sondern auch der Nachname Naphta?
Der Name Naphta wird üblicherweise auf Naphtali, den Sohn von Jakob und Bilha (1. Mose 30, 8) zurückgeführt. (4) Warum wählt Thomas Mann gerade diesen Namen? Es besteht ja eine große Auswahl: Jakob hat zwölf Söhne (1. Mose 35, 22 – 26). Die Übersetzung des hebräischen Wortes Naphtali ist „Kampf, Streit“. Diese Erklärung passt sicher zum Sohn Leo, aber nur gezwungen zu seinem Vater Elia.
Auf die richtige Spur bringt uns die Textstelle bei Hamsun, dass Isak seiner kranken Frau „eine Arzneiflasche mit Naphtha“ (ein Öl) bringt und sie ermahnt , „recht tüchtig davon zu trinken, damit sie wieder gesund werde (SdE 19, 5 – 8). Wir finden also nicht nur Elia und Leo in Hamsuns Roman, sondern auch das Wort „Naphtha“.
In Merck`s Warenlexikon, einem bekannten Hilfsmittel von Thomas Mann, lesen wir unter dem Stichwort „Napht(h)a“: „Schwefeläther, Vitriolnaphta, lat. Aether sulfuricus, Naphta vitrioli), ein Produkt der chemischen Großindustrie. .. Die Ätherfabrikation gehört zu den sehr feuergefährlichen Industriezweigen… Die Versendung auf Eisenbahnen geschieht nur mit separaten Güterzügen, sogenannten Feuerzügen und muß auf dem Frachtbrief das Wort „feuergefährlich“ stehen.“ (5).
Das bei Hamsun genannte Arzneimittel Naphtha führt bei Mann zu einer erweiterten produktorientierten Ausdeutung (Naphta) und Übernahme im „Zauberberg“. Es zeigt sich nun, auf welche Weise der Nachname Naphta gleichermaßen auf Elia und Leo zutrifft: Es ist das Wort „Feuer“, oder wenn wir an das „brennende Haus“ denken (Zb 665, 8 f.), das Wort „Brand“. Auch Ellen führt den Nachnamen Brand (6). Bei den Naphtas ist Elia das Brandopfer, Leo der (geistige) Brandstifter.
Schon Hamsun weist in die Richtung des (grausamen) religiösen Kultes: „ Ihr sollt nie ein Schlachtopfer bedauern…“ (SdE 80, 18 f.).
Mit der Frömmigkeit verbindet sich im „Zauberberg“ bei dem jungen Leo Naphta die Grausamkeit, mit dem „Anblick und Geruch sprudelnden Blutes“ die „Idee des Heiligen und Geistigen“ (Zb 664, 13 – 16). Später wird die große Institution durch Leo Naphta namhaft gemacht, die es mit Grausamkeit, Heiligem und Geistigem zu tun hat, nämlich die Kirche, „ deren eingeborene Tendenz und unverbrüchliches Ziel die Auflösung aller bestehenden weltlichen Ordnungen und die Neugestaltung der Gesellschaft nach dem Vorbilde des idealen, des kommunistischen Gottesstaates sei “ (Zb 888, 19 – 23). ). „Gotteseifer“ kann dabei nach Naphta „ selbstverständlich nicht pazifistisch sein, und Gregor hat das Wort gesprochen: >Verflucht sei der Mensch, der sein Schwert zurückhält vom Blute! <“ (Zb 606, 31 – 607, 1).
Isak wird oft als „Mühlengeist“ bezeichnet (SdE 10, 37; 22, 23; 44, 25; 58, 12; 93, 7; 127, 28; 229, 11; 260, 27; 340, 20 f.). Bei der Untersuchung des Namen Mylendonk („Mühlenesel“) war die Herkunft „Mylen“ noch nicht klar (7). Könnte es sein, dass das „Mylen“ auf diese Bezeichnung Isaks zurückgeht? Isak beschäftigt sich mit Moorarbeiten (SdE 5, 22 – 26; 6, 29 – 33; 123, 31 ff.). Der zweite Teil des Namens „Donk“ weist dann nicht nur auf den Esel, sondern „Donk bezeichnet eine flache Erhebung im sumpfigen Gelände im Zusammenhang mit Moorbesiedlung“ (8).
Anmerkungen:
1. Die Zahlen in Klammern (Seite, Zeilenangabe) verweisen auf Thomas Manns Der Zauberberg, Bd. 5/1(Textband) -2(Kommentarband) – M. Neumann - der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. Hervorhebungen durch Fettdruck vom Autor. Abkürzung: Zb. Knut Hamsun, Segen der Erde, Deutsch von J. Sandmeier und S. Angermann, 13. Aufl. 2007, dtv 11055. Abkürzung: SdE.
2. Ausführliche Schilderung eines Schweineschlachtens in: Knut Hamsun, „Benoni“, s. Anm. oben, S. 150, 20 – 154, 8.
3. Andere jüdische Namen: Aron (z.B. SdE 226, 4), Rebekka (z.B. SdE 153, 1 – 9). Isak will sein Kind Jakob nennen (SdE 34, 31 ff.; 28, 1 f.). Dies entspricht biblischer Tradition: Isaak ist Vater von Jakob und Esau (1. Mose 25, 19 – 28). Isak wird Israel genannt. (SdE 115, 3 – 6).
4. Vgl. Kommentarband, s. Anm. oben, S. 93.
5. Stichwort „Naphta“ in Merck`s Warenlexikon 1888, 3.Aufl. : http://www.retrobibliothek.de Der Äther wird in „Glasballons“ transportiert. Vgl. die „bauchigen Gefäße“ mit Sauerstoff zur „Anfeuerung“ der Moribunden (Zb 162, 27 – 163, 5; 22, 14 – 18; 441, 23; „überfüllt“ : 465, 28). Grundstoffe bei der Herstellung sind Spiritus und Schwefel. Eine poetische Umwandlung macht daraus Geist und Schwefelgestank (Teufel); vgl. Urteil Settembrinis über Naphta: „Mann von Kopf“ (Zb 614, 27) – Teufel versorgt Naphta (finanziell) gut von hinten (Zb 617, 33 f.).
6. Vgl. Beitrag „Ellen (Elly) Brand“.
7. Vgl. den Beitrag „Hans Castorp, in re Hans Brotsack“.
8. Vgl. den Artikel „Donk“: http://de.wikipedia.org/wiki/Donk