Spuren im „Zauberberg“: Die Reformationsgeschichte Lübecks
Die Reformationsgeschichte Lübecks ist bislang bei der Betrachtung des „Zauberbergs“ nicht detailliert genug zu ihrem Recht gekommen. Gerade hier aber finden sich Spuren, die zum Konzeptionskern des Romans führen.
Schon zu Beginn des Romans taucht der Name Bugenhagen auf (Zb 39, 21.25; 48, 12 f.). (1) Pastor Bugenhagen tauft Hans Castorp (Zb 39, 18 – 28) und beerdigt den Großvater (Zb 48, 11 – 18) in Hamburg. Johannes Bugenhagen (1485 – 1558) war der nordische Reformator, er schuf Kirchen – und Schulordnungen u.a. für Hamburg (1529) und Lübeck (1531) (2). Mit der Nennung des „ambivalenten“ Bugenhagens wird der Blick des Lesers von Hamburg nach Lübeck gelenkt. Es gibt aber auch noch einen anderen Hinweis auf Lübeck. Bei der Taufe Castorps und der Beerdigung des Großvaters wird die Kirche St. Jacobi (Zb 39, 20) erwähnt. Im Unterschied zur Michaeliskirche (Zb 48, 13; 39, 4) gibt es eine St. Jacobi - Kirche nicht nur in Hamburg, sondern auch in Lübeck. Diese gesuchte Doppeldeutigkeit erklärt, warum Bugenhagen und der Küster nicht gemeinsam von St. Michaelis kommen (3). Bugenhagen und die Kirche St. Jacobi stehen für beide Städte.
Die Gründe für diese Richtungsangabe nach Lübeck liegen auf der Hand. Bugenhagen hat 1531 die Gelehrtenschule des Katharineums in Lübeck im ehemaligen Katharinen - Kloster eingerichtet (4).Das Katharineum ist bekanntlich die Schule von Thomas Mann (dort 1889 – 1894). Mit der Nennung im „Zauberberg“ setzt er dem Schulgründer Bugenhagen und Lübeck ein Denkmal. Auf Bugenhagen als „Pädagoge“ deutet auch hin, dass der Bugenhagen des „Zauberbergs“ sich nach der Beerdigung des Großvaters „sehr freundlich mit dem kleinen Hans Castorp unterhielt“ (Zb 48, 17 f.) – auch wenn Hans Castorp in Hamburg nicht ins Katharineum gehen kann, sondern in ein Realgymnasium (Zb 53, 13 f.).
Das „Ur-Ur-Ur-Ur“- Motiv (Zb 38, 25 – 39, 14), für die politische Stellung des Geschlechts Castorp kennzeichnend, wird durch den Namen Bugenhagen auch für den konfessionellen Bereich fruchtbar gemacht und weist in die ferne Reformationszeit (Zb 38, 32 f.: „fromm gewahrten Zusammenhang“; 235, 28 ff.). Im Lübeck der Reformationszeit spielen die Castorps eine namhafte Rolle. (5)
Bugenhagen ist historisch mit dem Namen des Täuflings Castorp verbunden: In der Reformationszeit Lübecks gehört der Ratsherr Hinrich Castorp (gest. 1537) zu den drei Vertretern des Rats, die mit Bugenhagen zusammen eine Kirchenordnung entwerfen sollen (neben vier Vertretern des Bürgerausschusses und vier angesehenen Bürgern). (6) Er ist vorher Mitglied der Zehn aus den Achtundvierzig (einem Bürgerausschuss), die die Forderung der reformatorisch gesonnenen Bürgerschaft vor den Rat Lübecks bringen. Mit anderen verkündet er das Predigtverbot für die ganze (katholische) Geistlichkeit außer genau bestimmten Prädikanten. (7)
Der Name Castorp ist nicht nur mit Bugenhagen verbunden, sondern auch mit dem Exponenten der katholischen Gegenseite. Bei der Wahl zum Dekan des Domkapitels in Lübeck kandidiert der Domherr, Senior und Vizedekan Engelbert Castorp:
„Die Wahl für die kirchlich entscheidend wichtige Prälatur des Dekans, des eigentlichen geistlichen Leiters der Lübecker Kirche, wurde am 13. November 1523 vollzogen. Die wahlberechtigten Mitglieder des Kapitels waren dazu vollzählig erschienen. Im ersten Wahlgang erhielt der Domherr Johannes Brand zehn, der Domherr, Senior und Vizedekan EngelbertCastorp, ein Lübecker Patriziersohn, neun, und der Domherr und frühere Ratssekretär Johannes Rode eine der abgegebenen Stimmen. Im zweiten Wahlgang fielen Brand auch die vorher für Castorp abgegebenen Stimmen zu; das Amt des Dekans war damit in die Hände eines Mannes gelegt, dessen unversehrter kirchlicher Ruf, dessen Ansehen bei den Bürgern und vor allem beim Rat, dessen friedwillige und doch klare katholische Haltung für den Charakter kommender Kämpfe von großer Bedeutung sein mußten. Der Gewählte entstammte einer der angesehensten Familien der holsteinischen Stadt Itzehoe, war aber seit langem mit Lübeck eng verbunden “. (8)
Johannes Brand (1467 – 1531) besaß mit dem Dekanat das bedeutendste Kirchenamt Lübecks und führte die Aufsicht über Gottesdienst und Geistliche (9). Er war der letzte Dekan der katholischen Reichsstadt und ist durch seine genaue Führung des Domkapitelprotokolls ein wichtiger Zeuge dieser Zeit.
Wird diese historische Verknüpfung zwischen einem Castorp und Dekan Brand bei der Taufszene im „Zauberberg“ angedeutet?
Lassen ist Küster an der Kirche St. Jakobi. Sie ist in Lübeck nach dem Dom und der St. Marienkirche die dritte Haupt – oder Pfarrkirche (vor St. Peter und St. Ägidien). Die Leitung der einzelnen Kirchen übernahmen Domherren (den Dom das ganze Kapitel). (10) Der „Kustos“ (die lateinische Bezeichnung für Küster) war einer der herausragenden Domherren („Prälaten“) neben Propst, Dekan, Scholasticus und Cantor (11) und„Bewahrer der Reliquien der Kirche, des heiligen Öls und der zum Gottesdienste gehörigen Geräte“ (12). Sollte sich hinter dem Küster Lassen ein Prälat, ja sogar Brand verbergen, so ergibt sich die Pointe, dass ein profilierter Vertreter des Domkapitels dem Reformator Bugenhagen „das Wasser reicht“ zu einer evangelischen (deutschen) Taufe (Zb 39, 20 f.). Auch der Name „Lassen“ gewinnt hier über die Herkunft von Hamsun hinaus (13) im Sinne von „Laufen lassen“ Aussagekraft für die manchmal seltsam passive Haltung des Domkapitels gegenüber den reformatorischen Unruhen. Es war ja vor allem der konservative Rat der Stadt, dem das Domkapitel die Hauptlast der Abwehr aufbürdete und das im Übrigen auf die Ergebnisse des Augsburger Reichstages wartete.
Will man in der Interpretation nicht so weit gehen, so ist auf jeden Fall festzuhalten, dass der Name Castorp historisch nicht nur mit Bugenhagen, sondern auch mit Brand verbunden ist.
Schon früher führten wir den über Hamsun gewonnenen Namen Naphta auf „Brand“ zurück. (14) Sollte sich der katholische Dekan Johannes Brand aus der Reformationsgeschichte Lübecks als Namensgeber für den ursprünglichen Namen Naphtas „Brand“ erweisen? Damit wäre nach der jüdischen von Hamsun herkommenden Prägung auch die katholische Profilierung Naphtas einsichtig. Diese Überlegungen gestatten uns einen Blick in die „Trickkiste“ Thomas Manns: „der Trick, das Kommunistische in (Naphta) mit dem Jesuitisch-Katholischen (bei jüdischer Herkunft) zu verschmelzen, war nicht schlecht “ (15). Die „Trickkiste“ stammt aus der Reformationszeit Lübecks. Natürlich passt die Radikalität Naphtas nicht zu dem historisch bekannten Johannes Brand. Freilich braucht man keine weiten Wege zu gehen, um sozialrevolutionäre („kommunistische“) Gedankengänge in der Reformationszeit und Jesuitisches in der Gegenreformation zu finden.
Nun drängt sich die Frage auf: Wenn sich der katholische Dekan Brand zu Naphta im „Zauberberg“ entwickelt, wie steht es mit dem evangelischen Exponenten Bugenhagen? Hier sind wir der Überzeugung, dass Bugenhagen sich zu Bunge entwickelt hat. Nimmt man das z.B. bei Ortsnamen gebräuchliche Suffix –hagen weg, kommen wir zu Bugen, das sich unschwer durch Buchstabenvertauschung zu Bunge umformen lässt. Damit ist der Name des protestantischen Pastors Bunge erklärt. Es ergibt sich die Linie: Namenloser baltischer Pastor im Märchen „Galgenmännlein“ (16) – Bugenhagen – Bunge
Nachdem durch Dekan Brand die Position des Klerikers mit Naphta besetzt ist, geht Pastor Bunge in dem Humanisten Settembrini auf. Auch dieser Schritt liegt nahe: Reformation und Humanismus sind „Zwillingsbrüder“.