Zu der Taufe Castorps kommt Küster Lassen von der Kirche St. Jacobi (Zb 39, 20). Die Jakobikirche in Lübeck ist Ausgangspunkt für den Kreuzweg (LGS Nr. 148, S. 147, 3 f.). Der Kreuzweg in Lübeck soll der älteste in Deutschland sein, ein Grund mehr, ihn einzubeziehen, wenngleich nur versteckt in einem „hamburgischen“ Umfeld.
In der Geschichte tauchen die Zusammensetzungen „Jerusalemsberg“ (LGS Nr. 148, S. 11) und „Schädelberg“ (LGS Nr. 148, S. 146, 30) auf. Die ebenfalls zusammengesetzte Bezeichnung „Sündenberg“ (Zb 1079, 15) für Davos könnte von dort her nicht nur formal, sondern auch inhaltlich angeregt sein: Das Aufschütten des Jerusalemsberges geschieht, weil Heinrich Constin als Jerusalemsritter und Stifter eines Kreuzweges für den von ihm verschuldeten Tod seiner Frau Buße tun will. Er errichtet den Berg also wegen seiner Sünden. Hans Castorp ist ein „sündiges Sorgenkind“ (Zb 1079,9 f.), ein „Sünder“ (Zb 1079, 13), auch ein Adressat „göttlicher Güte und Gerechtigkeit“ (Zb 1079, 8 f.).
Der wunderliche „Jerusalemsberg“ im ebenen Lübeck und die Bezeichnung „Schädelberg“ in dieser Geschichte kann natürlich nicht nur zur Bezeichnung „Sündenberg“ führen, sondern auch zu „Zauberberg“.
Die Bezeichnung „Zauberberg“ findet sich im Text in der Nähe des Motivs „Siebenschläfer“ (Zb 1075, 10 f.; 1077, 30; 1078, 31) und wird hier zum ersten Mal im Roman genannt. (7)
Von einem Siebenschläfer wird in der Sammlung berichtet (LGS Nr. 73, S. 81, 35 – 82, 19): „1365 war zu Lübeck ein Schüler mit Namen Nicolas, der lag in der Mühlenstraße zur Herberge in einem Hause, zum güldenen Stern genannt. Dieser fühlte sich eines Tages von einem wunderbaren und ungewohnten Schlaf beschwert und schlief fest ein. Da lag er in einem steinernen Gewölbe bis an den anderen Tag. Als man ihn aber aufsuchte, konnte man ihn durch kein Rufen, Rütteln oder Schütteln zum Bewußtsein bringen, und man hätte ihn für tot gehalten, wenn nicht sein Herz deutlich geschlagen und sein Odem zu spüren gewesen wäre. Also schlief er nun ganze sieben Jahre und ward schier vergessen“ (S. 81, 36 – 82, 6). Er wird dann „fast hart“ (S. 82, 10) aus dem Schlafe geweckt.
Der Schlaf des sagenhaften Siebenschläfers ist ein „Zauberschlaf“ wie etwa bei Dornröschen. Ein Versuch, ihn zu wecken, scheitert (vgl. Besuch von James Tienappel). Er schläft sieben Jahre und wird vergessen. Nach dem Aufwachen sank Castorp (bildlich, Zb 1078, 33) „auf seineKnie hin, Gesicht und Hände zu einem Himmel erhoben, der schweflig dunkel, aber nicht länger die Grottendecke des Sündenberges war “ (Zb 1079, 14 ff.).
„Grottendecke“ ist ein Relikt des Ortes, woher der Siebenschläfer kommt: Sie weist auf das steinerne Gewölbe hin, unter dem der Siebenschläfer in Lübeck liegt, aber auch auf die bekannte Heiligenlegende der Sieben Märtyrer von Ephesus, die in einer Höhle (Grotte) Schutz vor der Christenverfolgung des Decius suchen und Jahrhunderte schlafen . (8)
Den Prozess der gedanklichen Entwicklung zum Namen „Zauberberg“ dürfen wir uns zusammenfassend so vorstellen: Die Idee, den Lübecker Siebenschläfer mit seinem „Zauberschlaf“ zu dem auf den Berg „Entrückte(n)“ (Zb 1074, 27; sc. Castorp) in Beziehung zu setzen , legt nahe, dass Thomas Mann auch die lokalen zusammengesetzten Namen Jerusalemsberg und Schädelberg mitgenommen hat und über "Sündenberg" zum Titelwort „Zauberberg“ gekommen ist.
Die oben angeführte Textstelle der Sammlung erlaubt uns, noch einmal einen Blick auf die Figur Adriatica von Mylendonk zu werfen und ihre Entstehung nachzuvollziehen (9): 1. Das Geschehen um den Siebenschläfer findet im Mühlenweg im Gewölbe einer Herberge statt, also im Keller. 2. Mit Dunk (Donk) wurden früher Webkeller bezeichnet, die bis heute unter diesem Namen in Orten alter Leinweberei besichtigt werden können. 3. In der „Odyssee“ Homers, die dem „Zauberberg“ bekannt ist, webt Penelope am Bahrtuch ihres Schwiegervaters Laertes (Odyssee 2, 93 ff.; 19, 137 ff.). 4. Von Penelope her wird die Gegenspielerin Kirke mit dem Zauberstab eingeführt und zur Adriatica mit dem Thermometer weiterentwickelt. 5. Die „Mühle“ im Mühlenweg provoziert das Herausstellen des Gerstenkorns bei Mylendonk.
Anmerkungen:
1. „Lübische Geschichten und Sagen“, gesammelt von Ernst Deecke, 1. Aufl. 1852, neu herausgegeben von Werner Neugebauer, 9. unveränderte Auflage 1973, Verlag Schmidt-Römhild, Lübeck. Abkürzung: LGS. Zitat: Neugebauer im Vorwort, S. 11.
2. Die Zahlen in Klammern (Seite, Zeilenangabe) verweisen auf Thomas Manns Der Zauberberg, Bd. 5/1(Textband) -2(Kommentarband) – M. Neumann - der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. Hervorhebungen durch Fettdruck vom Autor. Abkürzung: Zb.
3. Die Ausführungen zur Geschichte Lübecks beziehen sich auf: „Lübeckische Geschichte“, herausgegeben von Antjekathrin Graßmann, 4. Aufl. 2008, Verlag Schmidt – Römhild, Lübeck. Zum Siedlungsgebiet der Wagrier: S. 4 f.; zu Pribislav: S. 33 ff., 37 f.
4. Hochdeutsche Dehnung des kurzen Vokals im Plattdeutschen durch Weglassen des einen Doppelkonsonanten. Hinweis auf Plattdeutsch: Zb 35, 21; 52, 20; Konsul Tienappel: „min Söhn“ , Zb 55, 30.
5. Zum Nordischen Siebenjährigen Krieg: „Lübeckische Geschichte“, S. 429 – 433.
6. Der Titel Konsul („consul“) verweist in Lübeckauf den alten „Ratmann“: „Lübeckische Geschichte“, S. 221.
7. Hinweis im Kommentarband, a.a.O., S. 407, 59.
8. Zu der bekannten Legende von den Sieben Schläfern in Ephesus und anderen Formen vgl. www.wikipedia.de unter „Siebenschläfer“. Das merkwürdige Wort „Grottendecke“ kann sich bei Thomas Mann aus Grotte und Decius zusammensetzen.
9. Vgl. Beitrag: Die "Geschichte von dem Sohn und Ehemann" (Zb 302, 15 - 31); www.wikipedia.de unter "Donk".