In der spiritistischen Sitzung des „Zauberbergs“ wird Holger gefragt, wie lange er „ sich denn schon in seinem gelassenen Zustand befinde? – Jetzt kam wieder etwas, worauf niemand verfallen wäre, etwas träumerisch sich selbst Gebendes. Es lautete: „Eilende Weile“. – Sehr gut! Es hätte auch „Weilende Eile“ lauten können, es war ein bauchrednerischer Dichterspruch von außen, Hans Castorp namentlich fand ihn vorzüglich. Eine eilende Weile war Holgers Zeitelement, natürlich, er mußte die Frager spruchweise abfertigen, mit irdischen Worten und Maßgenauigkeiten mochte er freilich zu operieren verlernt haben.- “ (Zb 1004, 17 – 26). In einem „geschäftigen Traumleben“ (GH 655, 23 – 660, 27) betritt Heinrich mit Anna die Stube des Oheims, in der Verstorbene und Lebende herumgehen. Allmählich beginnen sie zu singen (GH 660, 1 – 11): „Wir träumen, wir träumen, Wir träumen und wir säumen, Wir eilen und wir weilen, Wir weilen und wir eilen, Sind da und sind doch dort, Wir gehen bleibend fort, Wem konveniert es nicht? Wie schön ist dies Gedicht! Hallo, Hallo! Es lebe, was auf Erden stolziert in grüner Tracht, Die Wälder und die Felder, die Jäger und die Jagd!“
Auch der Vater von Anna ist dabei (GH 659, 11 ff.), der früher Schulmeister war (GH 169, 16 f.). Dies erklärt die schulische Einbindung Holgers: Einsagen (Zb 998, 19 – 25), Rechtschreibschwäche (Zb 1003, 32), Tatze (Zb 1015, 21). Die Qualität des Gedichtes entspricht dem lyrischen Dichter Holger (Zb 1004, 2 – 5; 1005, 20 – 1007, 19). (6). Es kann keinen Zweifel geben, dass Thomas Mann bei der Ausgestaltung der spiritistischen Sitzung diese Stelle benützt hat. Die Frage muss nun sein, ob nicht überhaupt die Einführung des „spiritistischen Gesellschaftsspiel(s)“ (Zb 1000, 20) in den „Zauberberg“ von dort her angeregt ist. Dafür sprechen noch folgende Stellen:
Bei der Betrachtung eines Bildes von Heinrich kommt der Maler Lys auf den Spiritualismus zu sprechen (GH 477, 31 – 478, 12). Hier wird die Arbeitsscheu der Spiritualisten unter den Malern kritisiert, die sich nicht mehr an der Natur abrackern und „den Fleiß des wirklichen Lebens durch Wundertätigkeit “ der Erfindungskraft ersetzen wollen. Kurz danach wird der Totenschädel des Albertus Zwiehan (GH 478, 31 – 36) erwähnt. Eine weiterführende „Verwechslung“ von Spritualismus und Spiritismus ist so bereits angedeutet. (7)
Unter dem Einfluss eines Buches über Theosophie, das Heinrich unter den Büchern von Frau Margret fand (GH 83, 6 - 10), veranstaltet Heinrich in einer abgelegenen Kammer in der Dämmerung eine Art Séance: „Von ungefähr stieß ich an den Tisch, daß alle Gläser erzitterten und die Wachsmännchen (sc. „Schicksalsträger“) schwankten und zappelten. Dies gefiel mir, so daß ich anfing, nach dem Takte auf den Tisch zu schlagen, wozu die Gesellen tanzten, ich schlug immer stärker und wilder und sang dazu, bis die Gläser wie toll aneinander schlugen und erklangen“ (GH 85, 26 – 32). Auch die feurigen Augen einer Katze und der Kampf mit ihr fehlen nicht (GH 85, 32 – 86, 10). Nach Ansicht von Frau Margret war Heinrich schon auf dem Wege ein „Zaubermann“ zu werden (GH 86, 26 ff.).
Anna hat eine Nähe zu Ellen Brand. Judith erzählt über Anna: „Man sagt, daß das arme Mädchen seit einiger Zeit merkwürdige Träume und Ahnungen habe; daß sie schon ein paar Dinge vorausgesagt, die wirklich eingetroffen, daß manchmal im Träume wie im Wachen sie plötzlich eine Art Vorstellung und Ahnung von dem bekomme, was entfernte Personen, die ihr lieb sind, jetzt tun oder lassen, oder wie sie sich befinden, daß jetzt ganz fromm sei und endlich auf der Brust leide“ (GH 380, 18 – 25). Vor dem Einschlafen nimmt Heinrich „eine höchst gewählte und ideale Stellung ein, um mit Ehren zu bestehen, wenn Annas Geisterauge mich etwa unbewußt erblicken sollte“ (GH 381,36 – 382, 5).
Ellen führt aus, was man ihr heimlich vorgeschrieben hat (Zb 994, 29 f.) Eine Decke wickelt sich auf dem Tisch vor ihr auf (Zb 999, 3 ff.). Sie sieht ihre ältere Schwester, die zu gleichen Zeit in Amerika stirbt (Zb 1000, 1 ff.13 ff.).
„Übersinnliches“ ereignet sich außerhalb der Séance bei Castorps Tante, die den Tod von Leuten voraussagen konnte (Zb 332,8 – 19). Settembrini spricht über Geisteskrankheiten anhand des Beispiels vom „Vater in der Ecke“ (Zb 681,3 – 25).
Im „Grünen Heinrich“ taucht ein Maler namens „Römer“ auf (GH 359, 11 – 370, 30; 384, 10 – 395, 32; 397, 27 - 401,33; 418, 15 – 19; 621, 23 - 28).Römer war Aquarellist in Rom (GH 360, 27; auch in Frascati, Florenz, Venedig, GH 472, 34 f.) und wird nach Habersaat Heinrichs Lehrmeister. Bezüge zu Settembrini lassen sich feststellen:
Beide sind Lehrmeister. Settembrini kümmert sich um Castorp (z.B. Zb 467, 23 – 27; 468, 11 – 14), Römer schließt ein Lehrverhältnis mit Heinrich Lee ab (GH 365, 7 – 19; 366, 29 – 35).
Beide arbeiten nach eigenen Angaben an großen Dingen: Settembrini will im „Bund zurOrganisierung des Fortschritts“ das „Glück der Menschheit “ herbeiführen (Zb 373, 2 ff.), Römer „die Welt erlösen“ (GH 389, 6) (Kontext: Zb 370, 33 – 375, 2; GH 387, 21 – 389, 7). Römer handhabte „in seiner Wohnung allerlei geheimnisvolle Papierschnitzel“ und „ließ sich oft über wichtigem Schreiben betreffen“ (GH 387, 26 ff.), Settembrini zieht in seiner Wohnung aus der Manteltasche wichtige Papiere (Zb 370, 33 – 371, 8).
Beide werden in ihrer Arbeit behindert: Römer ist „Opfer unerhörter Tyranneien und Mißhandlungen“ (GH 388, 26 f.), wobei er „Hahnenschrei“ und Sicht- und Abhöreinrichtungen („Röhren“) besonders erwähnt (GH 389,8 – 18). Der „Schuft von Hofrat“ und die „unzulänglicheGesundheit“ verbieten es Settembrini „unter Todesdrohungen“, zu einem wichtigen Kongress nach Barcelona zu reisen (Zb 372, 20 – 32).
Auch eine andere Episode zeigt die Nähe zu Römer. Im „Grünen Heinrich“ beschreibt Vater Jakoblein „aus der mündlichen Überlieferung geschöpfte Hexensabbate und Bankette “ (GH 60, 4 f.) und „versicherte feierlich von einigen seltsamen Personen, daß sie sehr wohl auf dem Besenstiele zu reiten verständen“ (GH 60, 9 f.). Settembrini bezeichnet Frau Stöhr, die bei der Fastnachtsgeselligkeit mit Besen und Eimer erscheint, als „Baubo“ (Zb 495, 1 – 10), also geradezu als Idealbild einer Hexe.
In ihrer Replik nennt Frau Stöhr Settembrini einen „welschen Hahn“ und fordert ihn auf, „seine Zötchen“ für sich zu behalten“ (Zb 495, 10 ff.) Der Einfluss der Vorlage im „Grünen Heinrich“ macht sich geltend. „Zote“ ist aus dem französischen Sotie = (unflätiges) Narrenspiel abzuleiten. Im „Grünen Heinrich“ landet Römer in einem französischen Irrenhaus (GH 394, 27 f.), also bei den Narren. Grund dafür ist, dass Römer unter Verfolgungswahn leidet. Insbesondere Hahnenschrei erschüttert sein Nervensystem (GH 389, 8 – 11). Auch das Attribut „welsch“ bei Hahn lässt sich auf Römer zurückführen. Italien, Frankreich und Spanien sind „Welschland“. Römer war in Italien und Frankreich (vgl. die weiteren Hinweise auf Frankreich: Journal des Débats, GH 388, 17; Thiers, 388, 2 – 10). Die Biographie Römers wird bei Settembrini in einer Einzelszene verarbeitet: Er bekommt als Italiener Papiere in französischer Sprache (Zb 371, 5) und will zu einem Kongress nach Barcelona (Zb 372, 20 – 26). (9)
Angesichts dieser Nähe Settembrinis zum Maler Römer im „Grünen Heinrich“ ist zu fragen, ob nicht auch der Name Settembrini mit Römer zu tun hat. Der Name Römer weist nach Rom. Auch Lys, ein weiterer Maler im „Grünen Heinrich“, geht durch die Schule der Italiener (GH 471, 14 – 30). Zu einem Vergleich mit Bildern von Lys wird unter anderen Malern, die „mit feinstem Stifte und im solidesten deutschen Stil“ zeichnen (GH 472, 1 ff.), Overbeck und Cornelius herangezogen. Bekanntlich wurde eine Gruppe deutscher Maler in Rom „Nazarener“ genannt. Als Haupt dieser „Nazarener“ galt der Lübecker Johann Friedrich Overbeck (1789 – 1869). (8) Im Auftrag des preußischen Generalkonsuls Bartholdy in Rom bemalten mehrere Nazarener einen Saal mit Szenen aus der Josephsgeschichte. Overbeck übernahm dabei die Freskenbilder „Die sieben mageren Jahre“ und „Der Verkauf Josephs“ (1816/17).