Spuren im „Zauberberg“ : Ulrich Bräker, Der arme Mann im Tockenburg (1788/89)
Joachim Ziemßen im „Zauberberg“ zum Soldaten und „Deserteur“ zu machen, könnte auf Ulrich Bräker „Der arme Mann in Tockenburg“ zurückgehen. (1)
Angesichts der Gleichförmigkeit des Lebens auf dem „Berghof“ und der engen Zuordnung der beiden Vettern ergibt sich die Schwierigkeit, die beiden Romanfiguren voneinander abzuheben. Die Lösung, Joachim zum Soldaten zu machen, eröffnet vielfältige Möglichkeiten der Differenzierung. Er ist weit mehr als nur „Mitläufer“ von Hans Castorp.
Joachim hat das, was der Leser von einem Soldaten erwartet: Höflichkeit (Zb 79, 24 ff.; 85, 11 f.; 269, 24), Pünktlichkeit (Zb 96, 25 f.30; 115, 9 – 12); Diensteifer (Zb 525, 22) Disziplin (Zb 126, 28 f.; 446, 19 ff.), Gehorsam (Zb 583, 18 – 21). Es bietet sich für Behrens Gelegenheit, Witze über das Militär zu machen: „Stillgelegen – Stillgestanden“ (Zb 278, 21 f.); „Eisenfresser braucht nicht viel Hirnschmalz“ (Zb 531, 14 f.); „Gamaschendienst“ (Zb 629, 13 – 17). Eine ausführliche Diskussion über den militärischen Stand knüpft an den Beruf Joachims an (Zb 571, 1 – 572, 32). Der Leser mag es überdies als Besonderheit empfinden, einen Soldaten vorzufinden, der, statt verwundet in einem Lazarett zu liegen, an einer zivilistischen Krankheit leidet und sich in einem Luxussanatorium befindet. (2)
Nun gibt es in der Literatur und im Leben viele „Desertionen“. Wie kommen wir auf Bräker? Schon In einem früheren Beitrag wurde auf eine „Literaturliste“ bei Gottfried Keller im „Sinngedicht“ hingewiesen: „Von den Blättern des heiligen Augustinus bis zu Rousseau und Goethe fehlte keine der wesentlichen Bekenntnisfibeln, und neben dem wilden und prahlerischen Benvenuto Cellini duckte sich das fromme Jugendbüchlein Jung Stillings. Arm in Arm rauschten und knisterten die Frau von Sévigné und der jüngere Plinius einher, hintendrein wanderten die armen Schweizerbursche Thomas Platter und Ulrich Bräcker, der arme Mann imToggenburg. Der eiserne Götz schritt klirrend vorüber, mit stillem Geisterschritt kam Dante, sein Buch vom Neuen Leben in der Hand. Aber in den Aufzeichnungen des lutherischen Theologen und Gottesmannes Johannes Valentin Andreä rauchte und schwelte der Dreißigjährige Krieg“. (SG, 6. Kap., S. 286, 11 - 22) (3).
Namentlich werden im „Zauberberg“ genannt: Augustinus (Zb 599, 19 f.), Rousseau (Zb 578, 15; 605, 6), Goethe (Zb 379, 30), Benvenuto Cellini (Frau Stöhr: „Cenelli“, Zb 452, 4; s. Kommentarband, S. 237), Dante (Zb 242, 13; 783, 30). Ulrich Bräcker wird nicht genannt. Aber das zentrale Motiv „Desertion“ in seiner Lebensbeschreibung wird im „Zauberberg“ weithin entfaltet.
Bräker wird über eine private Anstellung bei Lieutenant Johann Markoni (Brä 134, 1 f.) unfreiwillig preußischer Rekrut. In Berlin klagt er: „Noch lebt mein guter Vater im Himmel; dem ist‘ s bekannt, wie ich nicht aus Vorsatz oder Lüderlichkeit dies Sklavenleben gewählt, sondern böse Menschen mich betrogen haben. Ha! Wenn alles fehlen sollte – Doch, nein! Desertieren will ich nicht. Lieber sterben als Spießruthe laufen. Und dann kann sich‘ s ja auch ändern. Sechs Jahre sind noch wohl auszuhalten. Freylich eine lange, lange Zeit; wenn‘ s zumal wahr seyn sollte, daß auch dann kein Abscheid zu hoffen wäre! – Doch, was? Kein Abscheid? Hab‘ ich doch eine, und zwar mir aufgedrungene Capitulation? – Ha! Dann müßten sie mich eher tödten! Der König müßte mich hören! Ich wollte seiner Kutsche nachrennen, mich anhängen bis er mir sein Ohr verlieht. Da wollt‘ ich ihm alles sagen, was der Brief ausweist. Und der gerechte Friedrich wird nicht gegen mich allein ungerecht seyn>>, u.s.f. – Das waren damals so meine Selbstgespräche“ (Brä 167, 27 – 168, 13). Bei der Aufnahme in eine Lesegesellschaft sieht er sich dem Vorwurf ausgesetzt, „ein ausgerißner Soldat“ zu sein (Brä 239, 10 f.). Gewissensbisse über seine Desertion hat der Icherzähler Bräker nicht: „ Was meine Desertion betrift, so machte mir mein Gewissen darüber nie die mindesten Vorwürfe. Gezwungner Eyd, ist Gott leid!“ (Brä 270, 5 ff.).
In dem Text Bräkers bieten sich zwei Begriffe an, die im „Zauberberg“ weiterentwickelt werden: Desertion und Capitulation.
Bräker will lieber tot sein als eine Verlängerung seiner in der Capitulation festgeschriebenenDienstzeit hinzunehmen. Mit seiner Desertion in der Schlacht bei Lowositz löst Bräker dieses Problem ohne Zuhilfenahme des Königs. Jaochim will unter keinen Umständen mehr eine Verlängerung seines Aufenthalts im Sanatorium. Er erzwingt seine Abreise, indem er ebenfalls vollendete Tatsachen schafft (Zb 630, 15 ff.). Die „Desertion“ von Bräker und Joachim ist so mit einem großen Thema des „Zauberbergs“ verknüpft, der Zeit. (4)
Im „Zauberberg“ bezeichnet Hofrat Behrens die Abreise Joachims als „Desertion“: „Sie werfen die Flinte hin, Sie wollen durchbrennen? Wissen Sie, daß das Desertion ist? “ (Zb 629, 27 f.; 634, 25; „Durchgänger“: 636, 14). Dieser Bezeichnung widerspricht Joachim und „sie war „zweifellos in Hinsicht auf Joachim nur Kohl und Geschwafel gewesen“ (Zb 634, 24 – 28). Der Begriff passt gängigerweise zu einem Soldaten, der eigenmächtig seine Truppe verlässt. Joachim will am „ersten Oktober als Fahnenjunker bei den Sechundsiebzigern“ (Zb 630, 15 ff.) eintreten, will also gerade zur Truppe: „Joachim ist desertiert, - zur Fahne desertiert, das gibt es auch“ (Castorp zu Onkel James: Zb 648, 30 f.; vgl. auch 662, 1). Joachim verlässt den „Berghof“ mit einer halbherzig gegebenen Erlaubnis von Behrens (Zb 630, 22 – 31; 632, 23.29 f.) Damit ist sogar der Makel der Eigenmächtigkeit beseitigt.
Worin liegt die Ursache der Desertion? Bei Entlassungsterminen („Abscheid") nimmt man es auch im „Zauberberg“ nicht so genau (Zb 630, 4 ff.; 634, 1 – 5; 294, 4 f.) Ziemßen kann nach über anderthalb Jahren seine „richtige Genesung hier oben“ (Zb 630, 11) nicht länger abwarten: „Herr Hofrat haben ursprünglich gesagt: ein Vierteljahr. Dann ist meine Kur immer wieder viertel – und halbjahrweise verlängert worden, und ich bin immer noch nicht gesund“ (Zb 630, 4 – 7). Die Bezeichnung der Abreise als „Desertion“ spitzt eine im ganzen Roman durchgehaltene Aussage zu: Eine normale Abreise vom Sanatorium „Berghof“ ist die Ausnahme, „so schlankerhand“ wird hier nicht abgereist (Zb 294, 4 f.) (5)
Der Icherzähler Bräker befürchtet, trotz eines Vertrages („Capitulation“; auch Brä 154, 23) nicht zur festgesetzten Zeit entlassen zu werden. Bei Joachim „kapitulierte“ der Hofrat (Zb 632, 21): Er gibt seine Zustimmung („Reisen Sie mit Gott“: Zb 630, 24; „sozusagen Erlaubnis“: 632, 23): „Rhadamant hatte ihn entlassen, - nicht rite, nicht als gesund, aber mit halber Billigung“ (Zb 633, 15 f.). Bräker überlegt sich, ob er nicht den Großen Friedrich anrufen soll, wenn er über seine „Kapitulation“ hinaus als Soldat festgehalten wird: „ Ich wollte seiner Kutschenachrennen , mich anhängen bis er mir sein Ohr verlieht“ (Brä 168, 9 f.). Joachims „Standhaftigkeit“ (Zb 633, 16 f.; vgl. auch die früheren Versuche Joachims: Zb 531, 6 – 11) erinnert an die „Standhaftigkeit“, die Bräker sich bei seinem Appell an den „gerechten“ König Friedrich ausmalt.
Bräker macht sich kein Gewissen aus seiner Desertion, dem Verlassen der Truppe. Für Joachim könnte nach Auffassung Castorps eine „Desertion und Treulosigkeit“, die „ einen Vorwurf für sein Gewissen enthielt“, darin bestehen, dass er seine „Freundin“ Marusja verlässt (Zb 524, 1 – 11). Vor seiner Abreise ist davon nicht die Rede: Joachim reist ab – „beinahe in dem Augenblick, wo die hochbrüstige Marusja zurückkehren sollte“ (Zb 634, 18 f.).
Bräker denkt auch an die möglichen Straffolgen einer Desertion („Spießruthe laufen“: Brä 168, 2; 181, 10 f.).Joachim wirft die Flinte hin und wartet die (mögliche) völlige Genesung nicht ab. Der dynamische Begriff „Desertion“ schließt die späteren Folgen seiner „Desertion“ ein: Die Krankheit verfolgt Joachim wie einen Deserteur, fängt ihn im Flachland wieder ein, bringt ihn auf den „Berghof“ zurück und „exekutiert“ ihn.
Dass die oben zitierte Stelle in Bräkers Roman im „Zauberberg“ verwendet wurde, zeigt noch ein formales Element: Das Gespräch zwischen Castorp und Behrens wird mit einem ausgeschriebenen „Und so fort“ abgeschlossen (Zb 636, 14 f.). Damit wird der Leser am Schlusse unserer Hauptstelle auf eine Stileigentümlichkeit Bräkers hingewiesen, nämlich auf die häufige Verwendungder Abkürzung "u.s.f." Offen "zitiert" eine andere Stelle diese Eigenart Bräkers. Behrens soll Castorp untersuchen, "ob er Dienstag wird reisen können ..." "M.w.!" sagte Behrens. "M.w.m.F.! Machen wir mit Vergügen" (Zb 266, 4 - 8). (6)