1. Castorp und Eden schauen bei neuen Bekanntschaften zuerst auf die Hände. 2. Der gesellschaftliche Status ist an den Händen abzulesen. 3. Ausgangspunkt für das „Fingerbeißen“ Chauchats und „Verunzierungen“ ihrer Hände sind die Hände der Arbeiterinnen einer Konservendosenfabrik in Jack Londons Roman. 4. Der Schmutz an den Fingergelenken Chauchats und das Bürstenmotiv gehen auf Edens schmutzige Hand zurück.
Nun ist natürlich zu fragen, welche Bedeutung das Bürstenmotiv an unserer Stelle entfaltet. Eine Bürste dient der Reinigung. Der „Pilgerchor“ geht in Wagners „Tannhäuser“ nach Rom, um sich beim Papst von den Sünden reinigen zu lassen.: Behrens parodiert also mit seiner Bürste diesen Vorgang. (5)
Warum ist es nun gerade Behrens, der hier mit einer Bürste hantiert? Die Quelle hat uns mit der „Bürste“ zu Chauchat geführt. Behrens hat ein Sonderverhältnis zu Chauchat: Er hat sie porträtiert (Zb 317, 5; 319, 23; 509, 3 – 9; 388, 32; 921, 19 – 28). Aber auch ohne Chauchat ist Behrens ein „Maler“. Die Bürste gehört zu den Instrumenten eines Malers.Wagners“Tannhäuser“und ein Maler werden zusammengeführt. Es ist nicht ganz abwegig, hier „phonetisch“ bei dem musizierenden „Maler“ Behrens an (Gustav) Mahler zu denken. Dafür spricht, dass Mahlers erste Aufführung als Kapellmeister in Hamburg der„Tannhäuser“ war (29.März 1891). (6)
Ruth ärgert sich über Eden: „Mit welchem Recht kam daher Martin Eden, der sich erst kürzlich von der Leierkastenmusik und den unkünstlerischen Liedern der arbeitenden Klasse frei gemacht hatte, und wollte über die Musik der großen Welt richten?“ (ME I 269, 20 – 24). Diese politische Sicht wird im „Zauberberg“ aufgenommen:
Settembrini wird häufig als „Drehorgelmann“ bezeichnet. (7) In einer Diskussion mit Castorp äußert er „eine politische Abneigung gegen die Musik“ (Zb 174, 3 f.) und erklärt sie „für politisch verdächtig“ (Zb 175, 27 f.). Freilich geht es Settembrini dabei um die Wirkungen der Musik, nicht um Klassifizierungen. Auch Castorp entrüstet sich über Settembrinis Ansicht.
Ein kurzer Weg führt von der oben zitierten „Zahnbürste“ zu Settembrinis „Zahnstocher“((Zb 228, 28; 335, 17; 537, 28). (8)
Brissenden rät Martin Eden von Ruth ab und schlägt ihm geradezu eine Frau wie Clawdia Chauchat vor:
„Was, zum Kuckuck, wollen Sie mit einem Mädchen aus der Bourgeoisie (sc. Ruth)? Suchen Sie sich eine großherzige, wollüstige flammende Frau, die das Leben verlacht, den Tod verspottet und liebt, solange sie kann. Es gibt solche Frauen, und die werden ebenso willig sein, Sie zu lieben, wie diese feigen Produkte einer behüteten Bourgeoisie.“ „Feige?“ protestierte Martin. „Jawohl – feige Geschöpfe, die sich mit der lächerlichen Moral brüsten, die man in sie hineingestopft hat, und sich vor dem Leben fürchten. Die lieben Sie wohl, Martin, aber ihre eigene Moral lieben sie noch mehr. Was Sie brauchen, ist ein strahlendes Hinwerfen des Lebens, sind die großen freien Seelen, die flammenden Schmetterlinge und nicht die kleinen Motten“ (ME II, 4 – 20).
Das Thema „Monismus“ ist in „Martin Eder“ vorgegeben. Für Kreis ist „das einzige in der Welt, Mary nicht ausgenommen, aus dem er sich wirklich etwas macht, (ist) sein Monismus. Haeckel ist sein Hausgott! Die einzige Möglichkeit, ihn zu beleidigen, ist, daß man etwas über Haeckel sagt“ (ME II, 140, 17 – 21; 144, 6).
In einer Diskussion greift Martin Eden Professor Caldwell an: Man könne über alle Fragen nichts erfahren, „ohne im voraus zu wissen, was das Leben ist. Wie können wir Gesetze und Einrichtungen, religiöse und andere Gebräuche verstehen, ohne nicht nur zu verstehen, wie die Menschen sind, die sie geschaffen haben, sondern auch wie der Stoff ist, aus dem dieGeschöpfe gemacht sind?“ (ME II 49, 18 – 24). „Sie wissen nichts von Biologie – rechnen nicht mit ihr als notwendigem Faktor. Ja, ich meine die richtige, darstellende Biologie, von Grund auf, von Laboratorien und Reagenzröhrchen und so weiter, bis zu den umfassendsten ästhetischen und soziologischen Generalisierungen“ (ME II 48, 31 – 49, 2).
Hier können wir die Anregung sehen, dass die Frage: Was war das Leben? im „Zauberberg“ dreimal gestellt (Zb 416, 9; 417, 1; 418, 9; vgl. auch Zb 245, 1: „Was ist der Mensch?“) und das „biologische“ Defizit Caldwells zum Teil mit „monistischen“ Ideen Haeckels ausgefüllt wird. (Zb 416, 9 – 433, 22). (9)
Martin Eden schreibt die letzte Seite seiner Erzählung „Überfällig“: „Finis“ schrieb er mit großen Buchstaben darunter, als er fertig war, und für ihn bedeutete es wirklich Finis“ (ME II, 185, 15 – 19). Thomas Mann schreibt in Großbuchstaben „FINIS OPERIS“, also „Ende des Werkes“ (Zb 1085, 24). (10)
Ein paar Beobachtungen seien noch angefügt:
„Ocean steamships“ heißt das Buch, das Hans Castorp auf seiner Reise mitnimmt und im „Zauberberg“ immer wieder genannt wird (Zb 12, 6; 15, 7; 104, 16; 104, 33 f.; 251, 21 f.; 414, 30). Der englische Titel des Buches könnte auf Martin Edens Ende auf dem Ozeandampfer (ME II 265, 11: „ocean steamship“) Mariposa hinweisen. Bezug zu Schiffen und Wasser wird auch sonst hergestellt. Hans Castorp ist Schiffsingenieur. Er fährt „zu Schiff über seine (sc. des Bodensees) springenden Wellen hin, dahin über Schlünde, die früher für unergründlich galten“ (Zb 11, 10 ff.). (11) Die „Maschine“ (Lokomotive) stieß „Rauchmassen“ aus (Zb 13, 27 f.). Neben dem Zug rauschten Wasser „in der Tiefe zur Rechten“ (Zb 13, 28 f.) Das „Atmen“ findet besondere Erwähnung (Zb 13, 10; 13,19 f.: „über dem Meeresspiegel zu atmen“) Settembrini erkundigt sich bei Castorp und Ziemßen, ob sie je eine Schiffsreise gemacht hätten (Zb 537, 26 f.). (12)
Martin Eden mietet sich bei der Witwe Maria Silva ein. Geräusche aus dem Nebenzimmer sind zu hören: „Es blieb also noch das Schlafzimmer, das ebenso klein wie Martins Stube war, und in dem sie mit ihren sieben Kindern schlief. Es blieb ein ewiges Rätsel für Martin, wie das möglich war, andererseits hörte er aber allabendlich durch die dünne Scheidewand, wie sie zur Ruhe gebracht wurden: das Schelten der Mutter, das Weinen der Kinder, das leise Plaudern und das schläfrige, zwitschernde Geräusch wie von kleinen Vögelchen.“ (ME I 250, 22 – 30; vgl. Zb 62, 33 – 64, 16; 65, 10).
Beim Seifenaufguss umwickelt Edens Arbeitskamerad Joe sich mit Handtüchern und gleicht einer Mumie (ME I 189, 6 – 11; vgl. Zb 226, 16).
Anmerkungen:
1. Die Zahlen in Klammern (Seite, Zeilenangabe) verweisen auf Thomas Manns Der Zauberberg, Bd. 5/1 (Textband) -2 (Kommentarband) – M. Neumann - der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. Hervorhebungen durch Fettdruck vom Autor. Abkürzung: Zb. Jack London, Martin Eden, Roman in zwei Teilen. Übersetzt von Erwin Magnus. Mit einem Nachwort von Doris Wendt, Georg Olms Verlag, 2008 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1927, Büchergilde Gutenberg). Abkürzung: ME I und II. Jack London, Martin Eden, Penguin Classics 1993. Zu den in der Forschung genannten Vorbildern Naphtas vgl. Kommentarband, S. 96 f. 2. Zitat Thomas Mann in: Kommentarband, S.93 f. 3. Vgl. Hinweis auf Katja Mann im Kommentarband, S. 77. 4. Chauchat genügt bürgerlichen Anforderungen nicht. Diese Linie lässt sich durch den Roman verfolgen und mit folgenden Stichwörtern beschreiben: dauernde Verspätung, Türenzuschlagen, Brotkugeln, Moral, Manieren, Freiheitsobsession (Zb 219, 25 – 33; 346, 16 – 21; 512, 28 f.; 515, 23 – 33; 760, 18 u.a.). Dazu gehört auch das „Fingerkauen“. 5. „Parodieren“ soll dabei nicht nur auf die Satire hinweisen, sondern betont auch den Chor: Die Parodos bezeichnet in der Tragödie das Eingangslied des Chores. Vgl. Metzler Lexikon Literatur, hrsg. von Burdorf, Fasbender, Moennighoff, 3. Aufl. 2007, s.v. „Parodos“, S. 572. 6. Für Thomas Mann ist Mahler nach einer Aufführung der 8. Symphonie in München (12. Sept. 1910) der Mensch, „in dem sich, wie ich zu erkennen glaube, der ernsteste und heiligste künstlerische Wille unserer Zeit verkörpert“. Zitat in: Gustav Mahler, dargestellt von Wolfgang Schreiber, rowohlts monographien 1971 (Auflage 1990), S. 122. 7. Zb 89, 5; 131, 16; 141, 13; 228, 5; 244, 22; 304, 14 f.; 340, 11; 365, 18 f.; 468, 9; 588, 31 f.; 590, 10; 676, 18; 719, 29; 732, 31; 736, 24; 737, 29. 8. Auf die bekannte Kritik Nietzsches an Wagner in „Der Fall Wagner“ soll hingewiesen werden: „Der Wagnerianer, mit seinem gläubigen Magen, wird sogar satt bei der Kost, die ihm sein Meister vorzaubert. Wir anderen, die wir in Büchern wie in Musik vor allem Substanz verlangen, und denen mit bloß ,repräsentierten´ Tafeln kaum gedient ist, sind viel schlimmer dran. Auf deutsch: Wagner gibt uns nicht genug zu beissen … Was gar das Wagnersche ,Leitmotiv´betrifft, so fehlt mir dafür alles kulinarische Verständnis. Ich würde es, wenn man mich drängt, vielleicht als idealen Zahnstocher gelten lassen, als Gelegenheit, Restevon Speisen los zu werden.“ In: Friedrich Nietzsche: " Richard Wagner in Bayreuth. Der Fall Wagner." Nietzsche contra Wagner. Reclam Nr. 7126, S. 107. Zu Thomas Manns Verhältnis zu Wagner („enthusiastische Ambivalenz“) vgl. „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ (MGG), Band 14, 1989, s.v. „Wagner, Wilhelm Richard“, Sp. 126. 9. Vgl. Kommentarband, S. 222 – 231, 400. 10. Vgl. Kommentarband, S. 410. 11. Vgl. Kommentarband, S. 129: Castorp muss nicht über den Bodensee fahren. 12. Natürlich geht es hauptsächlich um die Hybris bei technischen Entwicklungen.