Spuren im „Zauberberg“: Daniel Defoe, Robinson Crusoe (1719)
Bei der „hermetischen“ Situation des „Berghofs“ denkt man sofort an die Lage, in der sich Robinson Crusoe auf der Insel mit seinem (späteren) „Volk“ befindet. Daniel Defoe spricht geradezu von einer „verzauberten Insel“ (RC 262, 37; 286, 38 f.; OR 177, 3: „enchanted island“).(1) Auch der ursprüngliche Titel des „Zauberbergs“ hieß bekanntlich „Verzauberter Berg“. (2) Am Schlusse des Romans „Robinson Crusoe“ kommt der Protagonist noch nach Hamburg (RC 644 f.). Hans Castorp reist am Anfang des „Zauberbergs“ von Hamburg ab (Zb 11, 1 f.).
Nun taucht der Name „Robinson“ im „Zauberberg“ auf: „Zur Linken saß ihm (sc. Castorp) ein englisches Fräulein, schon angejahrt gleichfalls, sehr häßlich, mit dürren, verfrorenen Fingern, die rundlich geschriebene Briefe aus der Heimat las und einen blutfarbenen Tee dazu trank“ (Zb 70, 4 – 7). Es ist Miß Robinson (Zb 113, 5 f.). Sie hat Probleme mit derKommunikation wie Robinson (Zb 116, 2 – 8; 163, 16 f.; RC 173, 17: „stummes Dasein“). Als eine der Wenigen wird sie geheilt entlassen (Zb 544, 8 f.). Auch Robinson Crusoe kommt von seiner Insel weg.
Warum liest Miß Robinson Briefe? Dieser Hinweis soll den Leser auf die Szene der Postverteilung führen. Settembrini mokiert sich dort über die Tataren: „Wohin man blickt: tatarische Gesichter“ (Zb 366, 16 f.). Gegen diese Gefahr muss man eine „Abwehr“ bilden (Zb 366, 21; vgl. RC 595, 15 ff.: Chinesische Mauer als „Befestigungsgürtel gegen die Tataren“). (3) Castorp ärgert sich darüber, „weil dieser (sc. Settembrini) in seinem Dünkel von >>Parthern und Skythen<< gesprochen, - während er doch nicht einmal Personen vom >>Schlechten<< Russentisch im Auge gehabt hatte“ (Zb 347, 11 – 14).
Ausführlich berichtet Robinson Crusoe von gefährlichen Auseinandersetzungen mit Tataren (RC 596 – 604) und Wölfen (RC 315 f.; 321 – 327; s. die „Steppenwolfslichter“ im „Zauberberg“: Zb 366, 18; 472, 4 f.; 837, 27). Wichtig aber für uns ist, dass es auf der Insel englische „Taugenichtse“ gibt, die schon mit Tataren verglichen werden: Diese Taugenichtse überfallen die „anständigen“ Engländer, „raubten und plünderten alles so vollkommen aus, wie es sonst nur eine Horde Tataren zuwege gebracht hätte“ (RC 382, 28 ff.; OR 255, 5 f.: „sack’d and plunder’d every thing, as compleatly as a hoord of Tartars would have done“).
Die Unterscheidung zwischen zwei „Anständigen“ (RC 400, 10; 404, 15 f.; OR 273, 41: „two honest ones“) und drei „Taugenichtsen“ unter den Engländern (RC 411, 7 f.; 380, 12; 412, 27; OR 273, 40: „ three wicked ones“) ist offensichtlich in Verbindungmit dem Tatarenvergleich Anregung für die Unterscheidung in „guter Russentisch“ und „schlechter Russentisch“ (Zb 67, 27 ff.; 107, 22 f.; 118, 33; 307, 29 f.; 313, 12; 316, 31; 320, 32; 351, 20; 453, 24; 828, 15; 830, 18; 1035, 11; 1071, 3; 1072, 1 ff.).
Ein alter portugiesischer Lotse begleitet die Reisegesellschaft Robinsons nach Peking. Er fürchtet jetzt nicht mehr gebraucht zu werden: „Ja, weil Ihr mich fünfundzwanzig Tagesreisen weit hierher mitgenommen habt, und nun soll ich ganz allein den Rückweg antreten. Wie soll ich denn meinen Hafenort erreichen, ohne Schiff, ohne Pferd, ohne pecune? (4) So sagte er für Geld; mit seinen lateinischen Brocken brachte er uns immer wieder zum Lachen“ (RC 589, 27 – 32; 591, 20). (5) Behrens gibt Castorp einen Rat „ganz sine pecunia“ (Zb 74, 26; 77, 30 f.; 306, 17; 499, 15).Einem Mediziner am „Schlechten Russentisch“ wird mangelnde Lateinkenntnis vorgeworfen:„Settembrini behauptete, daß einer von ihrer Gesellschaft (sc. am „Schlechten Russentisch“), ein Mediziner in höheren Semestern, sich des Lateinischen vollkommen unkundig erwiesen, beispielsweise nicht gewußt habe, was ein vacuum sei “ (Zb 347, 23 – 26). Bemerkenswert ist, dass gerade in der Szene der Postverteilung der Staatsanwalt Paravant mit einem Iwan Iwanowitsch in Streit gerät. Settembrini meint, der Staatsanwalt sei „zwar ein Esel, aber er versteht wenigstens Latein“ (Zb 366, 26).
Robinson Crusoe ist einer der vielen Vorbilder Peeperkorns.
Robinson Crusoe wird wohlhabend als Plantagenbesitzer (RC 46, 16 ff.). Freitag, ein „Wilder“, ist sein exotischer Diener (RC 221, 21; 223, 31 f.). Als „Staatsgründer“ ist Robinson Crusoe „König“ (RC 261, 1) und „patriarchalischer Monarch“ (RC 514, 24). (5)
Peeperkorn ist „Kolonial – Holländer, ein Mann von Java, ein Kaffeepflanzer“ (Zb 827, 2 f.). „Der Mann ist schwer reich, nach allem, was ich (sc. Behrens) höre. Kaffeekönig in Ruhestand, müssen Sie wissen, malaiischer Kammerdiener, opulente Umstände“ (Zb 829, 2 ff.). Peeperkorn ist ein „königlicher“ Mann (6). Seine führende Rolle in der Gesellschaft des „Berghofs“ ist im Wortsinn „patriarchalisch“ und „monarchisch“.
Robinson Crusoe feiert den Jahrestag seiner Ankunft auf der Insel (RC 115, 30; 124, 32 ff.; 141, 24 f.; 248, 20 f.). Im „Zauberberg“ wird dies geradezu ausführlich ausgeschlossen (Zb 621, 30 – 623, 20).
Robinson Crusoe überfällt wieder die Reiselust und er will Brasilien und seine Insel aufsuchen, „Meine getreue Freundin, die Witwe, riet mir ernstlich davon ab und besaß immerhin so viel Einfluß auf mich, daß sie mich fast sieben Jahre davon abhielt, eine neue Fahrt zu wagen“ (RC 329,16 – 19). Er lebt „sieben Jahre(n) der Ruhe und des Behagens und im Vollgenuß aller gutenDinge“(RC 337, 9 f.). Ein aus Seenot geretteter katholischer Priester (RC 451, 27 ff.) macht Robinson Crusoe darauf aufmerksam, dass den heidnischen Frauen, obwohl sie fast siebenJahre mit seinen christlichen Untertanen zusammenlebten, noch nichts vom christlichen Glauben gesagt worden sei (RC 460, 12 – 18).(7)Auch diese Quelle hebt also die Zahl „Sieben“ schon heraus. Sieben kleine Löcher bringt Robinson an seinem äußeren Wall an (RC 177, 16 f.). Sieben Kanonenschüsse sind verabredetes Erfolgszeichen (RC 293, 20 ff.). Über 28 Jahre (4 x 7) war Robinson Crusoe auf der Insel (RC 299, 34 ff.). (8)
Biblische Bezüge sind häufig in Defoes Roman und im „Zauberberg“. (9) Während eines Sturmes fasste Robinson den Entschluss, „wie der verlorene Sohn“ zu seinem Vater heimzukehren (RC 15, 9 ff.). Der Vater Robinsons hätte ein gemästetes Kalb geschlachtet, wenn er heimgekommen wäre (RC 21, 6 f.). Behrens ist bereit, „ein Kalb für den Ausreißer (sc. Joachim) zu schlachten“ (Zb 756, 5). (10)
Nach zwei Jahren auf der Insel tritt bei Robinson ein Frömmigkeitsschub ein: Er denkt an Gott und seine Gnade (RC 124, 34 – 126, 32). Settembrini vermutet bei Castorp, dass er durch die Besuche der Moribunden „Rechtfertigung durch gute Werke“ sucht (Zb 467, 13). Castorp und Ziemßen bekommen den „Ruf von Samaritern und barmherzigen Brüdern“ (Zb 467, 9).
In beiden Romanen distanzieren sich die Protagonisten von der zurückgelassenen Welt.
„Auf die Welt sah ich herab wie auf etwas ganz Fernes, mit dem ich nichts mehr zu tun, von dem ich nichts mehr verlangte; mit einem Wort: sie ging mich nichts an, und ich wollte nichts von ihr“ (RC 141, 30 – 33).
Castorp sieht „auf Welt und Kreatur hinunter“ (Zb 569, 16). Unten sind „Menschen, die keine Ahnung hatten, wie man leben mußte“ (Zb 633, 22 f.) „Es ist eine grausame Luft da unten, unerbittlich. Wenn man so liegt und es von weitem sieht, kann es einem davor grauen“ (Zb 301, 23 ff.).
Robinson Crusoe will einen verbannten Fürsten mitnehmen. Dieser antwortet zunächst: „Ich kenne nichts auf der Welt, was mich veranlassen könnte, meine jetzige Verbannung aufzugeben, mit Ausnahme von zwei Dingen: einmal die Liebe zu meiner Familie und dann ein etwas wärmeres Klima?“ (11) „Weltverachtung“ RC 633, 18; OR 419, 36: „contempt of the world“) veranlasst ihn dann dennoch, am Verbannungsort zu bleiben.
Gegenüber einem wegen Meuterei verängstigten Kapitän gibt Robinson Crusoe auf der Insel die Parole aus: „Eines ist nämlich sicher: wer hier landet ist uns verfallen und wird leben oder sterben, je nachdem er sich zu uns stellt“ (RC 281, 34 ff.; „every man of them that comes ashore are our own, and shall die or live as they behave to us“ OR 189, 37 f.). Angesichts der beängstigenden „Erfolgsquote“ im Sanatorium „Berghof“ ist diese Sentenz eine der Leitlinien des „Zauberbergs“. (12)
Anmerkungen:
1. Daniel Defoe, Robinson Crusoe. Erster und zweiter Band. Aus dem Englischen von F. Riederer, Nachwort U. Böker. Artemis&Winkler 1966 (Patmos 2001). Abkürzung: RC Daniel Defoe, Robinson Crusoe, Dent: London, EVERYMAN’S LIBRARY 1969 (1. Aufl. 1906). Abkürzung: OR.
2. Die Zahlen in Klammern (Seite, Zeilenangabe) verweisen auf Thomas Manns Der Zauberberg, Bd. 5/1 (Textband) -2 (Kommentarband) – M. Neumann - der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. Abkürzung: Zb. Hervorhebungen durch Fettdruck vom Autor. Hier: Kommentarband, S. 58.
3. Es ist ein Dauerthema Settembrinis : Zb347, 10 – 348, 5: „Parthern und Skythen“; 339, 27; 346, 29; 368, 26: „Typen aus der moskowitischen Mongolei"; 438, 10: „tatarischePhysiognomie“; 721, 7 f.: „Tatarenschlitze“; 1077, 25: „byzantinischen Skythentum“).
4. „…and which way shall I get to my port afterwards without a ship, without a horse, withoutpeccune?’ so he called money, being his broken Latin, of which he had abundance to make us merry with” (OR 390, 32 – 35; 391, 37)
5. „I pleased my self with being the patron of those people I placed there, and doing for them in a kind of haughty majestick way, like an old patriarchal monarch; providing for them as if I had been father of the whole family, as well as of the plantation“(OR 341, 40 – 342, 1).
7. Robinson unterstützt ihn in missionarischer Weise dabei, obwohl er ihn „mit Erklärungen vorstellen muß, die ihn in protestantischen Augen schon von vornherein in schiefem Licht erscheinen lassen. Erstens war er nämlich Katholik, zweitens katholischer Priester und drittens französischer katholischer Priester“ (RC 451, 32 – 36).
8. Die Zahl 28 im „Zauberberg“: Sterbezimmer kleine Hujus (Zb 85, 14); Alter Chauchats (Zb 316, 11); Fischsaucen Frau Stöhrs (Zb 129, 3); Sterbezimmer Joachims (Zb 757,8. 24).
10. Vgl. Beitrag: Die “Geschichte von dem Sohn und Ehemann” (Zb 302, 15 – 31).
11. Beide Motive werden im „Zauberberg“ aufgenommen: Castorps Familienbindung ist nicht stark (zusammenfassend Zb 1073, 10 – 1074, 6). Die Kälte trifft Settembrini (Zb 146, 22 f.).
12. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier Fallgruppen und Romanfiguren aufgeführt: Tod: Amerikanerin (Zb 23, 6); Barbara Hujus (84, 2); ohne Namen (87, 7); Student, der sich aufhängt (127, 6); Numismatiker (298, 29 – 32, fehlbehandelt); Herrenreiter (434, 12); Reuter (448, 5 – 8); Fritz Rotbein (462, 5 f.); Leila Gerngroß (462, 29 f.); Frau Zimmermann, die „Überfüllte“ (466, 24 f.); 1. Sohn Ferdinand „Tous les deux“ (466, 32); 2. Sohn Lauro ; Dr. Blumenkohl (544, 1); Ferge (649, 11); Karen Karstedt (677, 24 ff.); Joachim (811, 7); Peeperkorn (944, 26); Naphta erschießt sich (Zb 1070, 12, Duell); Teddy (1073, 4 f.). Gesund entlassen: Ottilie Kneifer (135, 4 f.); Schwede (450, 20); belgischer Hauptmann (523, 13 f.); Miß Robinson (544, 8 f.); Zwangsweise: Anton Schneermann (231, 21 – 232, 3); Karstedt (476, 2 ff., kommt zurück); Abreise aus Gründen der Gesundheit: Deutschrussin (297, 17). Entlassungprobeweise: Sohn und Ehemann (302, 15 f.). Unterbrechung / Verreist: Clawdia Chauchat (525, 24; 529, 6); Zb 544, 14 f.: Großtante, Nichte, Marusja; Relegation: Polypraxios, Ammy Nölting, Freundin (Zb 627, 22 ff.); Wilde Abreise: Frau Salomon (542, 25 ff.; 708, 9) und andere (708, 6 ff.); „Strudel von wilder Abreise“ (wegen Krieg: 1079, 22 ff.); James Tienappel (661, 14). Auszugins „Dorf“: Karstedt (476, 5); Settembrini (540, 10); Naphta (567, 16 f., aus seinem Sanatorium).