Ein Jüngling verfiel „von übermäßiger Leidenschaft verzehrt, in eine schwere Krankheit“. „Viele Ärzte wurden herbeigerufen, um ihn zu heilen; soviel sie aber auch alle Zeichen der Krankheit beobachteten, so vermochten sie doch nicht, den wahren Grund zu erkennen, und mußten ihn endlich insgesamt aufgeben“. Ein „junger, aber tief in die Wissenschaft eingedrungener Arzt“ merkt, dass der Puls des Kranken hoch geht, wenn seine Geliebte Jeanette ins Zimmer kommt. Seine Beobachtung teilt er den Eltern mit: „Die Gesundheit eures Sohnes liegt nicht in den Händen der Ärzte, sondern in denen Jeannettes. Sichere Zeichen haben mich überzeugt, daß euer Sohn sie glühend liebt, obgleich sie, soviel ich gemerkt habe, nichts davon ahnt. Jetzt wißt ihr, was ihr zu tun habt, wenn sein Leben euch am Herzen liegt“ (Dek II, 8: S. 168, 28 – 169, 35). Das „unerfüllte(s) Verlangen“ verzehrt den Jüngling inwendig (Dek II, 8: S. 170, 5 f.).
Krokowski ist „ungefähr fünfunddreißig Jahre alt“ (Zb 30, 16) und ein „ganz gescheutesEtwas“ (Zb 20, 27). In seinen Vorträgen erzählt er (wie Boccaccio) „von erschreckenden Formen der Liebe, wunderlichen, leidvollen und unheimlichen Abwandlungen ihrer Erscheinung und Allgewalt“ (Zb 194, 13 ff.). Als Ergebnis stellt er heraus, das „Krankheitssymptom sei verkappte Liebesbetätigung und alle Krankheit verwandelte Liebe“ (Zb 196, 13 ff.).
Im „Zauberberg“ bietet Peeperkorn Castorp an, Clawdia auf die Stirn zu küssen.Woher kommt das Motiv des Stirnkusses?
Lisa, die Tochter eines Gewürzhändlers, entbrennt in Liebe zum König Peter von Aragonien(Dek X, 7).In ihrer Hoffnungslosigkeit wird sie krank. Der König hört davon und kommt zu ihr. Sie wird gesund. Der König will ihr einen Gemahl geben, beabsichtigt aber, „uns immerdar Euren Ritter zu nennen, ohne für solche Liebe mehr von Euch zu begehren als einen einzigen Kuss“ (Dek X, 7: S. 789, 29 ff.). Lisa antwortet: „Wie wenig es mir zukommt, Euch, den König, zum Ritter zu haben, wißt ihr selbst, und darum antworte ich hierauf nicht weiter. Auch wird Euch der Kuß, den allein Ihr von meiner Liebe begehrt, ohne Erlaubnis der Frau Königin nicht bewilligt werden“ (Dek X, 7: S. 790, 17 – 21). Der König verlobt Lisa mit einem ausgewählten Jüngling. Dann „faßte er mit beiden Händen ihr Haupt und küßte sie auf die Stirn“ (Dek X, 7: S. 791, 4 f.).
Der König küsst die Stirn der verlobten Lisa, wobei die von Lisa geforderte Einwilligung seiner Gattin und des sich etwas widerwillig verlobenden Bräutigams zu unterstellen ist.
„>> Küßt euch! << gebot Peeperkorn. >> Küsse diese reizende Frau zum Schluß auf die Stirn, junger Mann! << sagte er zu Hans Castorp. >> Sie wird nichts dagegen haben und eserwidern. Tut es auf mein Wohl und mit meiner Erlaubnis! << sagte er; aber Hans Castorp weigerte sich dessen. >>Nein, Eure Majestät! << sagte er. >>Entschuldigen Sie, das geht nicht.<< Peeperkorn , an den Kammerdiener gelehnt, zog seine Arabesken hoch und verlangte zu wissen, warum das nicht gehe. >>Weil ich mit Ihrer Reisebegleiterin keine Stirnküsse tauschen kann<<, sagte Hans Castorp. „Ich wünsche recht wohl zu ruhen! Nein, das wäre von allen Seiten gesehen, der reine Unsinn“ (Zb 867, 16 – 28).
Castorp küsst die Stirn Clawdias nicht, obwohl ihn Peeperkorn dazu auffordert und Clawdias Einwilligung vorauszusetzen ist.
Warum ist der „Stirnkuss“ für Castorp der „reine Unsinn“ (Zb 867, 27 f.)?
Peeperkorn möchte später eine Begründung für die Ablehnung des Stirnkusses von Castorp hören (Zb 918, 12 – 25). Er gibt sich selbst die Antwort: „Sie waren Clawdias Geliebter bei ihrem vorigen Aufenthalt“ (Zb 919, 19). Castorp denkt an den Mann Chauchats in Daghestan, an diesen und jenen (Zb 919, 8 f.), an Hofrat Behrens (Zb 921, 23), an den Faschingsabend, „in dessen Verlauf das Du (sc. mit Clawdia) auf traumhafte und unverantwortliche Weise vollen Sinn gewann“ (Zb 920, 4 ff.). Er bekennt sich: „Sie wissen nun, wer es war, mit dem Clawdia, bevor das gegenwärtige positive Rechtsverhältnis sich herstellte, das nicht zu respektieren natürlich ausgemachter Wahnsinn wäre, einen – einen neunundzwanzigsten Februar erlebt, verbracht, begangen – also begangen hat“ (Zb 921, 14 – 19). Dass es soweit kommen konnte, ist nur ihm zuzuschreiben (Zb 922, 11 – 19).
Nach einer solchen Vorgeschichte und der „Rechtsposition“ Peeperkorns ist selbst ein - (wenig legitimiert) „erlaubter“ Stirnkuss für Castorp nicht mehr möglich, wohl aber für einen König, der nicht verliebt ist. (11) Der höfische Charakter der Quelle wird im "Zauberberg" übernommen durch die Anrede Peeperkorns mit "Majestät" und an anderer Stelle durch die Erwartung Castorps, ein "Lohn beherrschter Ritterlichkeit" für seine Zurückhaltung zu bekommen (Zb 836, 27 - 32). .
Anmerkungen:
1. Die Zahlen in Klammern (Seite, Zeilenangabe) verweisen auf Thomas Manns Der Zauberberg, Bd. 5/1 (Textband) -2 (Kommentarband) – M. Neumann - der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. Hervorhebungen durch Fettdruck vom Autor. Abkürzung: Zb Zu Boccaccio vgl. Kommentarband, S. 165. 2. Giovanni Boccaccio, Das Dekameron. Aus dem Italienischen von K. Witte, durchges. von H Bode, Nachwort W. Wehle. Artemis & Winkler 2005. Abk.: Dek I: Dekameron 1. Tag. Giovanni Boccaccio, Il Decameron, a cura di Aldo Francesco Masséra, 2 Bände, Bari, Gius. Laterza & Figli, 1927 (Scerittori d’ Italia VII, VIII). Abkürzung: Dec . 3. Die Verbindung „Sieben“ und „Frost“ lässt sich im „Zauberberg“ auch sonst nachweisen: Im Kapitel „Schnee“ wird von einer „furchtbare(n) Kälte“ berichtet (Zb 726, 12 f.); „so hätten sieben Pelze nicht hingereicht, das Gebein vor eisigem Todesschrecken zu schützen“ (Zb 726, 18 ff.). Castorp hat „ in seinem Zimmer sieben Grad … Das war der Frost“ (Zb 407, 6 ff.). Auf seiner Balkonloge hatte es nach Sonnenuntergang „sieben oder acht Grad Frost“ (Zb 411, 7 f.). Vater und Sohn Settembrini lieben die Wärme und leiden unter Kälte (Zb 146, 22 f.; 147, 11; 148, 6 – 8). Zur weiteren Deutung vgl. Beitrag „Hans Castorps Vetter Joachim und die Geschichte Israels“. 4. In der Dreiecksgeschichte Castorp – Chauchat – Peeperkorn taucht das Motiv auf, dass sich die beiden „Liebhaber“ verbünden: Castorp hat „aufrichtige Verehrungsgefühle“ für Peeperkorn, „worin übrigens nebenbei eine kleine Bosheit gegen Ihre Reisebegleiterin lag; denn die Frauen sehen es gar nicht besonders gern, wenn ihre Liebhaber zusammenhalten“ >>In der Tat -<<, sagte Peeperkorn und verbarg ein Lächeln“. (Zb 924,11 – 15). 5. Zb 735, 5 – 11: „und so war die Exkursion doch nicht ganz nutzlos, wenn ich auch umgekommen bin und von der Hütte zur Hütte geschweift … >Umkommen<., was ist denn das für ein Ausdruck? Man braucht ihn gar nicht, er ist nicht üblich für das, was mir zugestoßen, ganz willkürlich setze ich ihn dafür ein, weil ich nicht so ganz klar im Kopf bin; und doch ist es in seiner Art ein richtiges Wort, wie mir scheint …“ Ob in der von Thomas Mann benützten Übersetzung schon das Wort „Umkommen“ vorkommt und damit das Wortspiel direkt vorgegeben ist, sei dahingestellt. 6. Vgl. den anderen Interpretationsansatz im Beitrag Spuren im „Zauberberg“: Richard Wagner, Mein Leben 1813 – 1868 (1. öffentl. Ausgabe 1911). 7. Weiteres Beispiel: Die „Belcolore gelobt zu Gott, daß Ihr nie wieder eine Brühe in ihrem Mörser stoßen sollt, weil Ihr ihr mit dieser so wenig Ehre gemacht habt“ (Dek VIII, 2; S. 600, 1 ff.) – „(La Belcolore dice che) fa prego a Dio che voi non pesterete mai piú salsa in suo mortaio, non l‘ avete voi si bello onor fatto di questa“ (Dec VIII, 2: S. 110, 35 ff.). 8. Der Zusammenhang Jungfrauen – Fisch ist in einer anderen Geschichte offenkundig: Dort fischen zwei junge Mädchen im Wasser stehend und entsteigen mit nassen anliegenden Kleidern (Dek X, 6). Chauchat lässt gerade beim Fisch die Glastüre zufallen (Zb 118, 16 f.) Der. Fisch ist auch Sinnbild der Fruchtbarkeit. 9. Vgl. zum Umfeld dieses Zitates Kommentarband, S. 243. 10. „e chi scontrati gli avesse, niuna altra cosa avrebbe potuto dire se non: - O costor non saranno dalla morte vinti o ella gli ucciderá lieti. – Cosí adunque, piede innanzi piè venendosene, cantando e cianciando e mottegiando, pervennero al palagio“ (Dec IX, Vorwort: S. 189, 14 - 18). 11. Kussvariationen: „Russischer“ Kuss auf den Mund: Zb 907, 6. 18.; 908, 9; im Traum: Kuss der Hand Chauchats: Zb 142, 5.; auf seinen Mund: Zb 434, 9 f. Kusshand: Zb 92, 3.