Folgende Argumente machen die jüdische Identität des Hofrats wahrscheinlich:
1. Der Name Behrens ist in Hamburg und Lübeck als Namen von Judenbekannt: „Ostern 1823 zogen zwei weitere wohlhabende (sc. jüdische) Familien ins liberaler regierte Hamburg: die Brüder Behrens, vier unverheiratete Kaufleute mit zusammen zehn Personen …“(1)
2. Als Arzt steht Hofrat Behrens unter dem „Generalverdacht“ einer jüdischen Herkunft: Um 1907 waren 6% der deutschen Ärzte jüdischer Abstammung bei einem Anteil an der deutschen Gesamtbevölkerung von etwa 1% (2). Seine Vorgänger Professor Kafka (Zb 98, 3) und Doktor Salzmann (Zb 98, 13) tragen mögliche Namen für Juden (3). Sein Kollege Krokowski ist eine „Judennase“.(4)
3. Das Klischee der besonderen jüdischen Geschäftstüchtigkeit erfüllt Hofrat Behrens (z. B. Zb 97, 21; Behrens entlässt kaum einen Berghofbewohner).
4. Hofrat Behrens spricht bei Übergabe des Grammophons von „deutscher Qualität“. Wer ist der Hersteller des Grammophons?„Der jüdische Anteil in einem anderen neuen Wirtschaftszweig, der aufstrebenden Elektrotechnik, wiederum war repräsentiert durch Emil Rathenaus Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft und durch die Union Elektrizitätsgesellschaft von Ludwig und Isidor Loewe, die 1904 in der AEG aufging“. (5) Das Geschenk von Hofrat Behrens lässt sich also unschwer jüdischen Unternehmen und dem bei der AEG tätigen Designer Peter Behrens zuordnen und ist so eines der Elemente, aus denen Thomas Mann die jüdische Identität des Hofrats Behrens zusammensetzt. Auch der Hofrat ist Angestellter einer Aktiengesellschaft (Zb 201, 19).
5. Behrens vergleicht sich mit dem (jüdischen) Vater, der seinen Sohn (Ziemßen = Siemsen) wieder aufnimmt (Zb 756, 4 ff.). (6)
6. "Jüdisch" sind die "blauen Backen" von Behrens (Zb 227, 11 - 21). So berichtet Sigmund Mayer von Juden, "welche es für sündhaft hielten, Wangen und Kinn durch das Messer glatt zu machen und die am Freitag in die fürchterliche Barbierstube eilten, wo ihr Gesicht mit gelöschtem Kalk, schwach gedämpft durch Auripigment, eine charakteristischeblaue Färbung erhielt". (7) Auch "Schwermut" (Zb 227, 24) und (vorübergehend) "Gestenspiel und Selbstgespräch" (Zb 202, 14 f.) sind zu beobachten: " In jedem Ghetto sah man übrigens sehr häufig Leute heftig gestikulieren, lebhafte Selbstgespräche führen, die man sonst als normal kannte ...Diese Exaltierten, in dem Bilde einer Judengasse besonders unheimliche Punkte, fügen sich durchaus in die schwere Stimmung, in die dunkle Grundfarbe des gesamten Ghettolebens". (8)
7. Warum zeichnet Hofrat Behrens ein „Schweinchen“ und nicht etwa einen Elefanten oder eine Giraffe? Hofrat Behrens zeichnet das „Schweinchen“ auf der „Rückseite (s)einer Visitenkarte“ (Zb 501, 27; 502, 28). Visitenkarten haben eine identifikatorische Funktion. Eine verharmlosende Erklärung („Faschingszeit“;„Gesellschaftsspiel“; dem „christlichen“ Designer Peter Behrens geschuldet (Zb 953, 18 – 32) greift hier zu kurz: Die „witzige“ (antisemitische) Pointe wird dann erreicht, wenn das Schweinchen auf die Visitenkarte eines Juden und vom Juden selbst gezeichnet wird. Der Hofrat ist geradezu „Meister“ im Zeichnen eines „Schweinchens“ (Zb 502, 8). „Meister“ ist die übliche Übersetzung von „Rabbi“ (vgl. auch Zb 329, 20).(9)
Wie bei anderen Romanfiguren sucht Thomas Mann bei Hofrat Behrens zwar nicht die offene Fixierung als Jude, verhindert sie beim Leser aber auch nicht expressis verbis, z. B. durch einen unverfänglichen Namen und einer den jüdischen Klischees widersprechenden Kennzeichnung. In dieser „offenen“ Unbestimmtheit liegt eine subtile Form von Antisemitismus: Malt der jüdisch benannte und kolorierte Hofrat ein „Schweinchen“, assoziiert ihn ein damaliger Leser mit „Judenschweinchen“. Dies passt zum „Judenohr“ Ziemßens, zur „Judennase“ Krokowskis, zum „Brotsack“ Castorp und zum (so genannten) „Judenjüngling“ Naphta (Zb 667, 14).
Anmerkungen:
1. Peter Guttkuhn, Die Geschichte der Juden in Moisling und Lübeck. Von den Anfängen 1656 bis zur Emanzipation 1852 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck. Herausgegeben vom Archiv der Hansestadt Reihe B Band 30), 1999, S. 119. Lübeckische Geschichte, herausgegeben von Antjekathrin Graßmann, Verlag Schmidt-Römhild, 4. Aufl. 2008 (1988), S. 479. 2. Vgl. „Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890 – 1914“, ,Sammelband, hrsg. von Werner Mosse unter Mitwirkung von Arnold Paucker, Mohr Siebeck Tübingen, 2. Aufl. 1996 (1. Aufl. 1976), S. 244, 191. 3. Die Zahlen in Klammern (Seite, Zeilenangabe) verweisen auf Thomas Manns Der Zauberberg, Bd. 5/1 (Textband) -2 (Kommentarband) – M. Neumann - der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002.Hervorhebungen durch Fettdruck vom Autor. Abkürzung: Zb 4. Vgl. Beitrag „Dr. Edhin Krokowski“. 5. Mosse in: „Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890 – 1914, a. a. O., S. 76. 6. Zu Ziemßen als Jude „Siemsen“ vgl. Beitrag „Joachim Ziemßens Ohren“. 7. Sigmund Mayer, Die Wiener Juden 1700 - 1900, K. Löwit Verlag Wien-Berlin, 1917, S. 463. 8. Ibid. S. 173. 9. Möglicherweise wird hier auch das Phänomen der „jüdischen Identitäts – Neurose“ angesprochen: vgl. dazu R. Weltsch in: „Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890 – 1914, a. a. O., S. 701 f.