Spuren im „Zauberberg“: Karl Philipp Moritz, Andreas Hartknopf (1786). Andreas Hartknopfs Predigerjahre (1790)
Schon in einem früheren Beitrag wurde die Nähe Thomas Manns zu Karl Philipp Moritz deutlich. Auch die beiden „Hartknopf-Romane“ dienen offensichtlich als Quelle für den „Zauberberg“. (1)
Nach dem Vortrag Dr. Krokowskis drängen die Zuhörer hinaus „wie das Gewimmel hinter dem Rattenfänger“ (Zb 199, 8f.). (2) Die Ortsbezeichnung „Hameln“, die sprichwörtlich zum „Rattenfänger“ dazugehört, wird absichtlich weggelassen: Hameln ist der Geburtsort von KarlPhilipp Moritz. Die Romanfigur Dr. Krokowski mit Moritz in Verbindung zu bringen ist schon deshalb passend, weil Dr. Krokowski bekanntlich „Analyse“ (Zb 190, 21; 628, 9 „Analytiker“: Zb 550, 20; 551, 32f) betreibt und seine Erkenntnisse im Stile einer „Verkündung“ vorträgt (Zb 196, 4: „Mönchssandalen“; 198, 17 - 20: „mit ausgebreiteten Armen“ beinahe „wie der Herr Jesus am Kreuz“). (3) „Analyse“ und „Verkündung“ sind als Hauptmerkmale für das Gesamtwerk von Moritz namhaft gemacht worden (4) und erscheinen nun im „Zauberberg“ bei Dr. Krokowski gleichsam in personifizierter Form.
Zu Beginn des Romans wandert Andreas Hartknopf nach Gellenhausen , seinem Geburtsort (AH 21, 9). Andreas kommt an einen Graben, über den er kein Steg findet. Es war allerdings „ein Graben, worin kein Wasser war, und durch welchen er gleich anfangs trocknes Fußes hätte durchgehen können, wenn er statt seiner philosophischen Resignation, seine beiden Sinne Gesicht und Gefühl zusammengenommen hätte“ (AH 14, 26 – 30). (5) Es wird schon Nacht (AH 12, 23 – 26). Dabei kommt es zu einer burlesken Szene (AH 13, 22 – 14, 23), die Thomas Mann für das Erlebnis Castorps mit seinen russischen Zimmernachbarn verwendet (Zb 138, 27 – 139, 21). Folgende Punkte sind herauszustellen:
1. Andreas Hartkopf „stand und ging am Graben auf und nieder, dann stand er wieder eine Weile, und pfiff die halbe Nacht hindurch im Winde sein Leibstückchen, daß es weit in dieFerne schallte, wo es der Wind hintrug“ (AH 13, 23 – 26; auch 14, 7ff.). Das Motiv des Pfeifens ist bei Hartknopf mit Vögeln im Walde verbunden. (AH 13, 26 – 30). Diese vorgegebene Verbindung verliert durch die Bearbeitung von Thomas Mann ihre Harmlosigkeit: Castorp liegt im Bett (Gegensatz, Dislozieren). Eine „abgeschmackte Operettenmelodie klangdurch das Dunkel herüber, und Hans Castorp pfiff sie im Flüstertone mit (man kann ja flüsternd pfeifen)“ (Zb 138, 28 ff.; auch 139, 19ff.).(Gegensatz, Richtungswechsel). 2. „Indem er (sc. Hartknopf) noch so da stand und pfiff, hörte er in der Ferne Menschenstimmen, und seine gute Laune, in die er sich hineingepfiffen hatte, erhielt beinahe einen kleinen Stoß“ (AH 14, 7ff.). Castorp berührt ein „Gefühl ausschweifender Freude und Hoffnung“ (Zb 139, 3), die von Joachim herrührt und nun durch das Treiben des Paares gestört wird. 3. „Die Menschenstimmen tönten wild in die Nacht – der Laut war wie von stammelnden Zungen, und ihr Ausruf war, wie der Ausruf derer, die voll süßen Weins sind.“ (AH 14, 14ff.). Im ersten Erlebnis mit dem Russenpaar (Zb 62, 33 – 64, 3) werden die „Geräusche nebenan“ (Zb 63, 17) hervorgehoben. Statt eines „Leibstückchen“ ist es ein „Gassenhauer“ (Zb 63, 31), der von fernher zu hören ist. 4. Es sind „Unmenschen - - es waren ihrer zwei – He da! Landsmann, stammelte der eine, was wankt er hier noch so spät umher? – Ich kann nicht über den Graben - - I Narr, so schwimm er durch, lachte jener laut auf, und stieß ihn in den Graben hinein“ (AH 14, 23). Die beiden „Unmenschen“ entsprechen dem „barbarische(n) Ehepaar“, die keinen „Frieden halten“ (Zb 139, 9f.; Zb 64, 8f.) Der Dialog zwischen einem der beiden „Unmenschen“ und Hartknopf (AH 14, 19 -23) wird ersetzt durch die Ausrufe Castorps (Zb 139, 15-19). 5. Joachim und das russische Ehepaar sind Castorps „Nachbarn zur Rechten und Linken“ (Zb 138, 11f.; 139,5ff.; 307, 29f.). Die „beiden besoffenen Kerl …faßten ihn brüderlich, der eine unter dem rechten, der andre unter dem linken Arm – der unter dem linken Arm hatte ihn in den Graben gestoßen, und war wie der böse Schächer zur Linken am Kreutze“ (AH 16, 7 – 11). 6. Die „Verzerrung seiner Gesichtszüge“, die für Andreas Hartknopf angesichts der Widrigkeit der Natur in Erwägung gezogen wird, findet sich in unmittelbarer Nähe unserer Textstelle bei Joachim: „Es war der Ausdruck, den Joachims Gesicht angenommen hatte, als von Marusja und ihren körperlichen Eigenschaften die Rede gewesen war, - diese ganz eigentümlich klägliche Verzerrung seines Mundes nebst fleckigem Erblassen seiner gebräunten Wangen“ (Zb 138, 17 – 21).
Andreas Hartknopf wandert anschließend mit seinen Begleitern nach Gellenhausen. Triumphal werden seine Begleiter Hagebuck und Küster in der Stadt empfangen: Dies „bezog sich auf eine Wette, die sie angestellt hatten, daß sie in Zeit von vier und zwanzig Stunden sieben Meilen zu Fuße hin und her gehen wollten. – Diese Wette hatten sie nun gewonnen, indem sie von dem Orte, der sieben Meilen weit von Gellenhausen lag, Brief und Siegel mitbrachten, daß sie da gewesen waren. – Solche Wetten wurden öfter angestellt, um dadurch einen edlen Wetteifer zu befördern“ (AH 26, 2 –8). Im „Zauberberg“ ist es Witwe Hessenfeld, die auf alles wettet (Zb 449, 18 – 30; weiter genannt 454, 2; 547, 13 f. 16). Sie wurde schon „beiläufig“ erwähnt (Zb 449, 17; 414, 1 f.6.7). „Beiläufig“ sind bei Moritz Hagebuck und Küster, die rechts und links neben Hartknopf nach Gellenhausen mitgehen. (AH 16, 9; 17, 9f.; 18, 11f). Gellenhausen liegt in Hessen, der Name Hessenfeld dürfte hieraus zu erklären sein. Witwe Hessenfeld kommt aus Berlin (Zb 414, 1 f.). Die Bezeichnung „Witwe“ dient dazu, Berlin als Sterbeort zu qualifizieren. Das offensichtlich von Moritz übernommene Wettmotiv bekommt so zusätzlich eine biographische Etikettierung: Der „verdeckte“ Hinweis auf sein Sterbeort Berlin ergänzt den oben „weggelassenen“ Geburtsort Hameln. Die Einführung von „Max und Moritz“ in den Roman mag ein zusätzlicher Hinweis sein (Zb 353, 12).
Im Kapitel „Des Gastwirth Knapps Pädagogik“ (AH 68, 1 – 71, 11) werden Beispiele genannt, wie Knapp seinen Sohn erzog:
„Er lehrte ihn fünf Weingläser in der Hand zwischen den Fingern zu tragen, und beim An – und Ausziehen lehrte er ihn zu gleicher Zeit beide Hände brauchen, so daß er sich mit einemal beide Schuh aufschnallen konnte“ (AH 68, 16 – 19). Im „Zauberberg“ führt Behrens sein Stiefelbandkunststück vor: ...er setzte seinen gewaltigen Fuß auf eine höhere Stufe, löste die Bänder, ergriff sie nach einer besonderen Praktik mit einer Hand und wußte sie, ohne die andere zu Hilfe zu nehmen, mit solcher Fertigkeit kreuzweise einzuhaken, daß alle sich wunderten und mehrere umsonst versuchten, es ihm gleichzutun“ (Zb 172, 14 – 19; 353, 18 f.; 383, 13 f.). (6)
Knapp prägt seinem Kinde das Bild des Todes in die Seele ein (AH 69, 6 f.). „Der wollustreicheGedanke des Aufhörens drängte seine (sc. des Sohnes) ganze Lebenskraft immer in den gegenwärtigen Augenblick zusammen, und machte, daß er in einzelnen Tagen mehr, als andre Menschen in Jahren, lebte“ (AH 69, 21 – 24). Der „Gedanke des Aufhörens“ überfällt Castorp bei der Anreise, als er Laubbäume und Singvögel unter sich lässt (Zb 14, 10 f.).
Knapp passt besonders auf, wenn sein Sohn mit dem Finger Figuren in den Sand zeichnet (AH 71, 5 f.), weil er „seine (sc. des Sohnes) Lebensgeister beständig in Bewegung zu erhalten“ suchte, diese also dadurch bedroht sieht. Bei seiner Wanderung nach dem Besuch bei Heil horchte Hartknopf „auf den Tritt seiner Füße, und stand zuweilen still, und machte mit seinemStabe Figuren in den Sand“ (PJ 128, 6 f.; 147, 5 f.). „Mit dieser Handlung begannen die fürchterlichsten Stunden seines Lebens – dieß war das Zeichen der gänzlichen Leerheit, der Selbstermangelung, des dumpfen Hinbrütens, der Theilnehmungslosigkeit an allem“ (PJ 128, 8 – 11; 129, 3f). Diese Stellen der Quelle können zur Deutung beitragen, warum Castorp mit dem Stock „Figuren im Sand“ zeichnet (Zb 83, 9 f. 25; vgl. auch 639, 33 f.).
Im Gespräch mit Hartknopf kommt sein alter Lehrer (der Emeritus, Elias) auf seine Studierlampe zu sprechen: „Es ist doch Schade, daß dieser kunstreiche Bau des Auges, durch welches Licht und Wahrheit in die Seele strömt, eher wieder in Staub versinken soll, als die Lampe, die ihmleuchtete – Diese Hand ließ es ihr nie an Öhl und Tacht gebrechen, und in kurzem wird sie verweßt seyn“ (AH 47, 1 – 6). Hand und Verwesung (Tod) werden bei Moritz öfters zusammengebracht (AH 100, 10 -13; 101, 7f; 102, 14 – 19; PJ 112, 9: „verwesete Hand“). Auch im „Zauberberg“ wird die „Hand“ als Sinnbild der „Verwesung“ (Vergänglichkeit, Tod) ausgewählt: Bei der Untersuchung im Labor erlaubt Behrens, „daß der Patient (sc. Castorp) seine eigene Hand durch den Lichtschirm betrachte“ (Zb 332, 32 – 333, 1). Hans Castorp „sah in sein eigenes Grab. Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichtes, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt, zu nichtigem Nebel gelöst“ (Zb 333, 5 – 8). (7) Vielleicht erklärt dies die Merkwürdigkeit, warum im „Zauberberg“ auch sonst die Hand besondere Aufmerksamkeit findet (8).
Elias ist „der Rektor Emeritus von der lateinischen Schule in Gellenshausen, Hartknopfs ehemaliger Lehrer“(AH 38, 4f.).(9) „Auri Sacra Fames Schrieb der Emeritus mit ein wenig Bleistift auf des alten Hartknopfs (sc. Vater von Andreas) Leichenstein“, der im Elend starb wegen seiner Gier nach Gold (AH 75, 18 ff.). Der alte Hartknopf versuchte in alchimistischerWeise aus unedlem Metall Gold zu machen. In unserer Quelle wird mit Elias der Bereich der Schule angesprochen und Bleistift mit Tod in Beziehung gebracht (Leichenstein). Von hier aus kann man sich einer schwierigen Stelle zuwenden: Hans Castorp verlangt zum Schweinchenzeichnen einen Bleistift. Er „erhielt den Bleistift, ein schon ganz kurzes Ding“ (Zb 503, 15f). Wegen der „Undienlichkeit“ des Bleistiftes wirft er ihn in die Punschbowle (Zb 503, 24f.), also in ein heißes Mischgetränk. Liest man hier statt Bleistift Blei – Stift, wie ihn der Emeritus „ein wenig“ benützt, dann wirft Castorp Blei in eine heiße Brühe: Es liegt eine Anspielung auf die untaugliche alchimistische Kocherei vor. Denkt man daran, dass bei Bleistift an Blei zu denken ist, das in „Gold“ überführt werden soll, dann wird diesbezüglich der folgende Selbstvergleich Castorps und die Funktion des Bleistifts verständlich.
Castorp erklärt Clawdia: „Mit einem Worte, du weißt wohl nicht, daß es etwas wie die alchimistisch – hermetische Pädagogik gibt, Transsubstantiation, und zwar zum Höheren, Steigerung also, wenn du mich recht verstehen willst. Aber natürlich, ein Stoff, der dazu taugen soll, durch äußere Einwirkungen zum Höheren hinaufgetrieben und –gezwängt zu werden, der muß es wohl im voraus ein bißchen in sich haben. Und was ich in mir hatte, das war, ich weiß es genau, daß ich von langer Hand her mit der Krankheit und dem Tode auf vertrautem Fuße stand und mir schon als Knabe unvernünftigerweise einen Bleistift (sc. „Blei – Stift“) von dir lieh, wie hier in der Faschingsnacht (Zb 902, 28 – 903, 5; auch 769, 26 – 770, 19). Der Blei-Stift ist das Vehikel, um zu „Gold“ (Erlösung, Erleuchtung, Erkenntnis) zu kommen. (10)