Spuren im „Zauberberg“: Peter Altenberg, „Wie ich es sehe“ (1896) und andere Werke
In seinem Beitrag für ein Altenberg - Buch (1921) stellt Thomas Mann die Musikalität der Sprache Altenbergs heraus: „Unter den Sternen dieses Firmaments war Peter Altenberg nicht einmal einer von erster Größe. Aber welch eine wundersam innig durchdringende Leuchtkraft besaß er! „Märchen des Lebens“ – heißt nicht eins seiner Bücher so? Sein ganzes Werk könnte so heißen. Man wird bei genauerem Hinhören die Note „Andersen“ darin nicht verkennen, so wenig wie Geist, Rhythmus und Komposition seiner Prosa den Einfluß Nietzsches verkennen lassen; und diese Symbiose scheinbar so wesensverschiedener literarischer Lebensteile war von unglaublicher Musikalität. Natürlich ergeben Nietzsche plus Andersen nicht Peter Altenberg. Was hinzukommen mußte, war eben dieser, und die stilistische Persönlichkeit ist, wie das Leben selbst, unanalysierbar. Auf jeden Fall, wenn es erlaubt ist, von „Liebe auf den ersten L a u t“ zu sprechen, so ereignete sich dergleichen bei meinem frühen Zusammentreffen mit diesem Prosa-Poeten“ . (1)
Bei genauerem Zusehen wird sich zeigen, dass Thomas Mann nicht nur die sprachliche „Musikalität“ Altenbergs schätzt. Er liest in dem oben genannten Buch, dass die von Altenberg 1903/4 redigierte Zeitschrift: „K u n s t. Halbmonatschrift für Kunst und alles andere“ nach acht Nummern „ein Reklameblatt für Grammophone und photographische Bedarfsartikel“ wurde (Friedell, S. 298).
Im Buche „Märchen des Lebens“ berichtet Altenberg unter dem Titel „ Grammophonplatte“, wie er mit einer Dame zusammen täglich im Laden eines Uhrmachers wiederholt die Platte „C2-42531. Die Forelle von Schubert. (Deutsche Grammophonaktiengesellschaft.)“ anhört. Altenberg beschreibt detailliert das „in Musik umgesetzte Gebirgswässerlein“, die Forelle, die Begleitung auf dem Klavier und den Eindruck auf den Zuhörer: „Das reale Leben ist nicht mehr vorhanden. Man spürt das Märchen der Natur“. (4)
Hat Thomas Mann das Motiv „Grammophon“ und dessen Möglichkeiten der literarischen Verarbeitung im „Zauberberg“ bei Altenberg gefunden?
So handelt das Unterkapitel „Fülle des Wohllauts“ (Zb 963, 25 – 990, 22) von Grammophonund Platten, die Castorp wiederholt allein anhört. (2) Eine ausführliche „Besprechung“ der einzelnen Stücke findet jeweils statt. Bei der Séance mit dem Medium Ellen Brand wird das Grammophon eingesetzt. (3) Erwähnenswert ist auch, dass Behrens bei der Übergabe des Grammophons die Herkunft „deutsch“ hinzufügt (Zb 965, 32).
„Hans Castorp war allein mit den Wundern der Truhe (sc. des Grammophons) in seinen vier Wänden, - mit den blühenden Leistungen dieses gestutzten kleinen Sarges aus Geigenholz“ (Zb 974, 4ff.). Der Vergleich findet sich ähnlich auch bei Altenberg: „Vor Ihnen zogen die Zigeuner dahin mit ihren Instrumentenkästen - -. Wie in schwarzen staubigen Särgen lag die Musik- .“(Wies, Die Zuckerfabrik, 44, 31ff.).
Thomas Mann hat bei der Einführung des Grammophons in den „Zauberberg“ nicht nur Peter Altenbergs Text im Blick, sondern auch Altenberg selbst . Beim Traum Castorps auf der Wiese (Zb 979, 20 – 980, 27) legt sich dies nahe.
Hans Castorp hört sich mit dem Grammophon ein „symphonisches Präludium französischen Ursprungs“ an und kommt dabei ins Träumen (Zb 979, 20 – 27). (5) Im Traum hat Castorp „Bocksbeine“ (Zb 979, 24), er wird als „Hans mit den Bocksbeinen“ bezeichnet (Zb 980, 9f.). Der „junge Faun“ Castorp (Zb 980, 18) bläst „an einem kleinen Holzgebläse, das er im Munde hielt, einer Klarinette oder Schalmei“ (Zb 979, 26ff.). „Hier herrschte das Vergessen selbst, der selige Stillstand, die Unschuld der Zeitlosigkeit: Es war die Liederlichkeit mit bestem Gewissen, die wunschbildhafte Apotheose all und jeder Verneinung des abendländischen Aktivitätskommandos“ (Zb 980, 21 – 24).
Die „Liederlichkeit mit bestem Gewissen“ und die „Verneinung“ des abendländischen Arbeitsethos sind sicher Aussagen, die auf den Bohemien Peter Altenberg zutreffen könnten. Bekanntlich konnte Altenberg (unterstützt durch ein ärztliches Gutachten :„Überempfindlichkeit des Nervensystems“) ein Leben lang regelmäßige Arbeit vermeiden. (6)
Für die Nähe Altenbergs spricht auch die Auswahl des Musikstücks: Das Stück „Prélude à l’après-midi d’un faune“ von Claude Debussy, des führenden impressionistischen Komponisten, verbindet sich in dieser Szene mit dem literarischen, „musikalischen“ Impressionisten Peter Altenberg. (7)
Zur vollen Überzeugung, dass hinter dem „Faun“ Peter Altenberg steht, gelangen wir durch das folgende Argument:
“Faunus“ ist seiner Herkunft nach ein altrömischer Waldgott, der dem griechischen Wald- und Weidegott „Pan“ angeglichen ist. Faun und Pan sind austauschbar. (8) Castorp ist also im Traum auch Träger der Attribute des Pan, ein „Pan mit den Bocksbeinen“. Mit anderen Worten: Der „Faun“-Hans könnte auch ein „Panhans“ sein.
Der Name „Panhans“ verweist zunächst auf eines der bedeutendsten europäischen Grandhotels in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg (eröffnet 1888).(9)Ohne Zweifel kannte Thomas Mann den Namen dieses Hotels am Semmering (in der Nähe Wiens).Er war in der zu berücksichtigenden Zeit mehrere Male in Wien. Von einem Ausflug Thomas Manns auf den Semmering (1908) mit Wassermann, Schnitzler und Hofmannsthal wird berichtet (10).
Das Hotel „Panhans“ am Semmering ist nun für Peter Altenberg in Literatur und Leben ein zentraler Ort. Im „Panhans“ quartiert sich Peter Altenberg ein und kauft etwa „für eine Krone eine Porzellankaffeeschale mit gemalter Ansicht: „Semmering, Hotel Panhans“. (11) Dort verehrt Altenberg Klara, die Tochter des Hotelbesitzers Panhans. (12) Altenberg kann es nicht erwarten, wieder auf den Semmering zu kommen (13). Unter der Überschrift „PA’s Landschaften“ in „Vier Briefe an die Tänzerin Bessie B.“ preist er den Semmering (Friedell, S. 346f.).
Wir dürfen uns also die Entwicklung der Szene so vorstellen: Mit dem Hotelnamen „Panhans“ verbindet Thomas Mann Peter Altenberg, macht ihn zum personifizierten „Panhans“ und so zur Ausgangsfigur des „Faun-Hans“ Castorp in dieser Szene.
Wenn wir „Panhans“ als verdeckten Arbeitsbegriff Thomas Manns verstehen, ergeben sich interessante Interpretationsaspekte:
- Der Traum des „Fauns“ Castorp ist am Semmering zu lokalisieren: Die „Verneinung des abendländischen Aktivitätskommandos“ (Zb 980, 24f.) lässt sich dann über Altenbergs Charakter hinaus auch auf den in der damaligen Zeit herausragenden Bau der Semmeringbahn beziehen (eröffnet 1854).
- Das Hotel „Panhans“ am Semmering und das nahegelegene Wien rücken in den Blick. Der Semmering ist damals beliebtes Ziel für die „Sommerfrische“ reicher jüdischer Geschäftsleute und Künstler, besonders aus Wien. (14). Namen des "Zauberbergs" könnten von dortigen Kurgästen stammen.
- Unter der Überschrift „Bei der Bob-Bahn auf dem Semmering“ stellt Altenberg fest: „Hier frieren „Aristokraten“ stundenlang, zum Pläsier! Leider bekommen sie keine Frostbeulen! Sie genießen sogar die Kälte! Schade!“ (15) An anderer Stelle bringt Altenberg „Frieren“ und „kalte Leichen“ miteinander in Verbindung (16). Altenberg könnte hier „Stichwortgeber“ sein für den witzigen Einschub, dass vom Sanatorium Schatzalp auf der Bob-Bahn Leichen zu Tale befördert werden (17). Die wiederholte Feststellung „ Wir frieren nicht“ (18)wird auf diesem Hintergrund versrtändlicher in seinem Todesbezug Die „Frostbeulen“ kratzt sich Frau Stöhr (Zb 264, 10 – 15).
- Der bekannte Namen„Zauberberg“ für Semmering ist (bis auf weitere Erkenntnisse) ein späterer Einfall, der sich dem Tourismus verdankt. Allerdings benützt Altenberg bereits das Wort „Zauberreich“ ( nicht für den Semmering). (19)
- „Panhans“ kann über das Italienische „pane“ mit „Brothans“ übersetzt werden . Diese Verbindung Brot mit Hans könnte Thomas Mann angeregt haben, den Namen „Castorp“ (= Brotsack) aus der lübischen Geschichte für seinen Protagonisten auszuwählen. (20) „Panhans“ kann aber auch der „ Für Alles (griechisch „pan“) zuständige Hans (Jack) sein, der „Hansdampf“, also der von Settembrini gewünschte Mann der Arbeit, des Verkehrs, des Fortschritts.
Ist hier Altenberg Castorp zugeordnet, so lassen sich auch Elemente der Beschreibung Peeperkorns entdecken.
„Gespräche mit dem Dienstpersonal“ werden bei Altenberg oft geführt. (21) Anregend für das Gespräch (besser: Monolog)Peeperkorn – Zwergin Emerentia (Zb 833, 4 – 834, 23) könnte das Gespräch Altenbergs mit dem Stubenmädchen Josephine sein (Was,Mein Lebensabend, Gespräch, S. 433). Nur der erste Abschnitt sei hier wiedergegeben: „Josephine, Sie, die Sie seit Jahren von mir für irgendeine Dienstleistung absichtlich kein Trinkgeld annehmen, obzwar Sie nicht zu meinem vierten Stock gehören, wie geht es Ihnen?!?“ (S.433, 3 – 6). Peeperkorn : „MeinKind“…Sie (Charakterisierung) … Vor allem, wie heißen Sie?“ (Zb 833, 14 – 19).
In dem Beitrag über Altenberg von Alfred Polgar „Wirkung der Persönlichkeit“ (Friedell, S.263 – 274) finden sich Wegweiser für die Gestaltung Peeperkorns:
Wirkung auf Nicht - Arrivierte: „Am Tisch, an dem er saß, war nur er (sc. Altenberg). Die andern? Publikum, Staffage, Stichwort bringer“. (Friedell, S. 266, 11ff.). „ Was ihm galt, hieß ihm „heilig“ (Friedell, S.267, 21). „Seine Geste, Mimik, Rede, hemmungslos hinausgeschleudert aus bewegtem Innern , trug solcher Herkunft Merkmal“, das „vor Gott und Menschen bedeutend zu machen“ schien (Friedell, S. 268, 19 – 269, 2). Der „Lauheit, Halbheit, Dumpfheit, Wackeligkeit ihrer (sc. der Tischrunde Altenbergs) Reaktionen „entflohen sie in seine Worte und Gebärden“ (Friedell, S. 268, 12 – 15).
Peeperkorn beendet die um sich greifende „Demoralisation, Lethargie, Stumpfsinn“ seiner Tafelrunde durch Einsatz seiner Persönlichkeit (Zb 859, 32 – 18).
Wirkung auf Arrivierte: „Die Angelangten, die Großen kehrten sich bald von ihm (sc. Altenberg), dessen unproduktive Fülle ihre produktive Armut entschleierte“ (Friedell, S. 266, 6ff.).
Peeperkorn sorgte durch seine Anwesenheit dafür, dass das Gespräch Settembrini – Naphta „an Glanz zu verlieren schien“, es „entweste“, erhielt den „Stempel des Müßigen“ , ihre Fehde „entnervte sich an diesem Magnetismus“ (Zb 887, 6 – 26).Das wahre Kräfteverhältnis Peeperkorn – Naphta zeigt Castorp anhand eines Beispiels auf: Wären beide in einem Zimmer, würden sich alle Leute um Peeperkorn versammeln (Zb 664, 17 – 17).
Wirkung auf Castorp: „In seiner (sc. Altenbergs) Wärme verschrumpelte aller Pappendeckel. Gebrannte Jünger schützten sich vor der Gefahr durch Imprägnierung mit Liebe oder Spott“ (Friedell, S. 271, 14 – 17).
Die zweite Möglichkeit wird für Castorps Verhältnis zu Peeperkorn expressis verbis ausgeschieden: Castorp „ließ sich, wiederholen wir, nicht beirren in seiner aufrichtig achtungsvollen, wenn auch zuweilen etwas kecken Teilnahme für einen Mann von Format “, wobei es mancher „lieber sehen würde, wenn er Peeperkorn gehaßt und gemieden und innerlich von ihm nur als von einem alten Esel und kaudernden Trunkenbold gesprochen hätte“(Zb 869, 15 – 25).