Spuren im „Zauberberg“: Arthur Schnitzler, Professor Bernhardi (1912)
Für den „Zauberberg“ relevant ist das folgende Problem in der Komödie „Professor Bernhardi“: Der ärztliche Direktor Professor Bernhardi hindert Pfarrer Franz Reder daran, ein Krankenzimmer zu betreten, um der todkranken Philomena Beier das Sakrament der letzten Ölung zu erteilen. Diese, in „absolute(r) Euphorie“, weiß von ihrem baldigen sicher eintretenden Tod nichts und soll nach Auffassung Bernhardis nicht noch durch das Erscheinen eines Pfarrers in Todesängste gestürzt werden. Bernhardi will ihr dadurch „ein glückliches Sterben“ verschaffen. Auf einen Wink des Pfarrers schleicht sich Schwester Ludmilla ins Krankenzimmer und richtet die Anwesenheit des Pfarrers aus. Die Todkranke stirbt (PB 145, 16 – 149, 19). (1)
Ein Vergleich mit der bekannten Geschichte der kleinen Barbara Hujus (Zb 84, 2 – 86, 32) zeigt die Ähnlichkeit.
Strukturelemente
Benachrichtigung des Pfarrers: Durch Schwester Ludmilla (PB 134, 20 – 24; 196, 19f.) // „ ihre Eltern kamen,und nun kam denn also der Priester“ (Zb 84, 7).
Ankunft: Unspektakuläre Ankunft des Pfarrers und Mesners (Pb 145, 16f.) // „marsch, marsch, im Geschwindschritt, zu dritt“: Mann mit Kreuz, Geistlicher, Junge mit Räucherfäßchen (Zb 84, 21 – 25).
Am Krankenbett: Verwandte und Liebhaber nicht da (PB 134, 4 – 11) // „Leute, die Angehörigen natürlich, die Eltern“ (Zb 86, 7f.).
Signal für Kranke: Durch Schwester Ludmilla (PB 147, 3f.) // Priester auf der Schwelle (Zb 85, 20f.).
Alter/Zustand der Kranken: 18 Jahre (PB 133, 25f.); ledig (PB 196, 20); „Abortus“ (PB 144, 33 ); „Die Kranke weiß nicht, daß sie verloren ist. Sie ist heiter, glücklich und – reuelos“ (PB 148, 11f.) //„kleine“ Hujus (ZB 84,1;85, 13); „Backfisch“ (Zb 84, 5); „junges Mädchen“ (Zb 86, 31).
Sterbesakrament: Bedarf wegen der Abtreibung „der Absolution dringender als manche andere“ (PB 148, 2); „verbrecherischen Eingriffes“ (PB 196, 35ff.) // „das Sterbesakrament mußte sie haben“ (Zb 86, 13f.); „einer Katholischen“ (Zb 84, 1f.).
Reaktion der Kranken: „Sie ist halt ein bissel erschrocken“ (Schwester Ludmilla,PB 149, 3); „Muß ich denn wirklich sterben?“ (Kranke, PB 149, 6); Kranke stirbt postwendend (PB 149, 7) // Zetermordio, Gekreisch, Schreien, greuliches Betteln, Verkriechen, grauenhafter Protest, Strampeln, weitaufgerissene Augen (Zb 85, 20 – 86, 13).
Bewertung: Bernhardi: „kein gottgefälliges Werk“ (PB 147, 12f.), weil der ahnungslosen Todkranken dadurch noch zusätzliche Qualen bereitet werden. Interpellation: „Erfüllung einer heiligen Pflicht“ (PB 196, 34) // „Man sollte den Priester nicht holen lassen, bevor einer ganz schwach ist“ (Castorp, Zb 86, 25f.); Todesangst bei jungem Mädchen zu entschuldigen , sonst einfach „Schlappheit“(Ziemßen, Zb 86, 30 – 87, 1).
Es ist offensichtlich, dass Thomas Mann Schnitzlers „Professor Bernardi“ als Vorlage benützt hat. Schon eine Nebensache legt dies nahe: Pfarrer Reder ist 28 Jahre alt (PB 145, 16), Schwester Ludmilla etwa 28 (PB 127, 14), das Zimmer der kleinen Hujus hat die Nummer 28 (Zb 85, 13f.). Diese Verwendung von Bühnenanweisungen (Regieanweisungen) ist nicht überraschend. Man denke etwa nur an die folgende Stelle: Castorp hatte Mühe, „zwischen den beiden (sc. Chauchat und Peeperkorn) von seinem Stuhle emporzukommen, - er mußte sich seitlich davon herunterschieben, so daß denn also die handelnden Personen in einem Dreieck standen, den Stuhl in ihrer Mitte“ (Zb 845, 31 – 846, 2). Auch der Begriff „Kulissen“ an unserer Stelle (Zb 83, 26; 84, 13) erinnert an die Entstehung aus einer Bühnengestaltung.
Thomas Mann sieht sich vor dem Problem: Wie erzähle ich die Szene eines Bühnenstücks?
In einer ersten Fassung (abgedruckt im Kommentarband, S. 149 – 152) entfernt Thomas Mann Schwester und Ärzte aus dem Vorraum des Krankenzimmers und ersetzt sie durch Castorp und Ziemßen. Sie werden dadurch direkt in die Szene als Augenzeugen hineingestellt. Die Notwendigkeit aber, Castorp und Ziemßen auf dem leeren Flur zur Essenszeit zusammenzubringen , führt zu einer „epischen“ Langatmigkeit des Vorspanns, die die dramatische Hujusgeschichte in ihrem Schwung beeinträchtigt. Das Motiv des „Nasenblutens“ von Castorp wirkt gesucht und kann später besser verwendet werden (Zb 182, 31).
Die endgültige Fassung reduziert die beiden Augenzeugen auf den Militär Ziemßen, der „in anständiger Haltung“, also Hacken zusammenschlagend an der Mauer steht und die „Parade“ abnimmt. Das in der Komödie "Professor Bernhardi" vorgegebene Motiv wird zugespitzt: Aus dem unspektakulären Auftreten des Pfarrers Reder und seines Ministranten wird eine „militärische“ Demonstration. Das eher leise Erschrecken der Philomena Beier wird ersetzt durch Schreien des „Opfers“. Der Vorname „Barbara“ illustriert das (teilweise) unartikulierte Geschrei der kleinen Hujus und mag auch noch an den militärischen Sachbereich der Heiligen Barbara erinnern. Der Nachname „Hujus“ ist inspiriert von Tante Olgas Schrei „Hui, das Öl. Hui hui hui hui hui hui hui!“ in Friedrich Huchs „Peter Michel“. (2)
Die so rührend anmutende ganzheitliche Geschichte der kleinen Hujus ist also eine Collage von Motiven, die Thomas Mann in verschiedenen Quellen gefunden hat. Die Meisterschaft liegt in der Verschmelzung dieser Motive zu einer überzeugenden Einheit.
Anmerkungen:
1. Professor Bernhardi. Komödie in fünf Akten. In: Arthur Schnitzler, Komödie der Verführung. Zeitstücke 1909 – 1924, Aufl. 2002 (1961), S. Fischer Verlag Frankfurt am Main (Ausgewählte Werke in acht Bänden, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold), S. 125 – 270. Abk.: PB .
Thomas Mann Der Zauberberg, Bd. 5/1 (Textband) -2 (Kommentarband) – M. Neumann - der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. Hervorhebungen durch Fettdruck vom Autor. Abkürzung: Zb.
2. Vgl. Beitrag Spuren im „Zauberberg“: Friedrich Huch, Peter Michel (1901). Weitere Quellen: Die kleine Meret in Kellers „Der grüne Heinrich“ (s. Beitrag) zeigt ähnliche Reaktionen wie Hujus, z.B. „Kopf in die Decke“; „Hut“: Spuren im „Zauberberg“: Conrad Ferdinand Meyer, Novellen und Aufsätze.