Schon lange hat man darauf verwiesen, dass der Name Naphtha auf den „Naphtali“ des AltenTestaments zurückgeführt werden kann, dem sechsten Sohn Jakobs (mit Bilha). Naphtali bedeutet „Kampf“, eine Erklärung, die der streitsüchtige Naphta des „Zauberbergs“ in vollem Umfange bestätigt. (1) Sein Vorname „Leo, oder Leib, wie er in seiner Kindheit genannt worden war“ (Zb 663, 19f.) unterstreicht dies: „Löwe“ ist Metapher für „Kampfesmut“, „Stärke“ und anderes. Der Name Naphta könnte sich für Thomas Mann aber noch aus anderen Gründen angeboten haben.
Naphta ist nicht weit weg von „Naphtha“, mit dem „zykloalkanisches Erdöl“ bezeichnet wird. (2) Diese Assoziation wird unterstützt durch den Vornamen „Leo“.
Die hebräische Leseweise ist uns als jüdisches „Element“ des „Zauberbergs“ bekannt. Gemeint ist damit das Lesen von rechts nach links, also „rückwärts“. Dies führt nicht nur bei Castorp (Brotsack) zu einem überraschenden Interpretationsgewinn. Liest man bei Leo Naphta den Vornamen Leo rückwärts, kommt man zum Wort „Oel“, also Öl. Es ist kein Zufall, dass der Vorname den Nachnamen interpretiert. Thomas Mann gelingt es, den dezidierten Gegner des Fortschritts Naphta „namentlich“ gerade mit dem Brennstoff, dem „Schmiermittel“ des Fortschritts, in „paradoxer Ironie“ zu verbinden. Ein weites Assoziationsfeld eröffnet sich damit dem Leser, das um die Stichworte „Öl/Kampf/Kampf ums Öl“ kreist.
Eine weitere Erklärung des Namens soll hier vorgestellt werden:
1. Bei der Ausgestaltung des „armselige(n) Judenjünglings“ Naphta (Zb 667, 14) im Roman spart Thomas Mann nicht mit antisemitischen Stereotypen. Schon öfters wurde die Aussage Joachims über Naphta zitiert: „ Und dabei hat er ja eine Judennase, sieh ihn dir doch an! So miekrig von Figur sind auch immer nur die Semiten.“ (Zb 582, 7 ff.) Settembrini will Castorp und Joachim „nicht mit dem häßlichen kleinen Naphta allein“ lassen (Zb 595, 26f.) und will „diesen Mann mit einem Worte kennzeichnen. Er ist ein Wollüstiger“ (Zb 619, 33f.). „Leos Spitzfindigkeit und geistiges Wühlertum“ sind selbst dem Kreisrabbiner zuviel (Zb 666, 17). Wenigstens Naphtas Füße sind „sehr zierlich“ (Zb 564, 8). Warum lenkt Thomas Mann den Blick des Lesers auf die Füße? Denkt man an die erwähnten Attribute des Juden Naphta, dann ist die eigentliche Bedeutung dieser Fortsetzung, dass Naphta „sehr zierliche Füße“ hat, leicht zu erschließen: Es ist eine ironische, sinnverkehrte Bezeichnung. Nach dem Katalog antisemitischer Stereotypen bedeutet sie nichts anderes als: Der Jude Naphtha hat (überraschenderweise) keine „Plattfüße“.
Das folgende Zitat zeigt, dass ein damaliger Leser dies so auffassen konnte:
„Dass Juden Plattfüße haben, gehört zu den Klischees, gegen die sich sogar der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ zur Wehr setzen musste: „ >>Mit der Annahme, daß der Plattfuß ein spezifisches Rassenmerkmal sei, muß aber endlich einmal gründlich aufgeräumt werden <<, heißt es 1909 in einem Fachartikel. Der C.V. hatte dazu einen Herrn Dr. Muskat, Spezialarzt für orthopädische Chirurgie, herangezogen. (Im deutschen Reich, XV, Nr.6, Juni 1909, 354)“. (3)
2. Der Gedanke an Naphtas fehlende „Plattfüße“ ist nun nicht nur gängiges Stereotyp, sondern findet einen Anhaltspunkt im Namen selbst.
Im Beitrag über Peter Altenberg wurde uns deutlich, dass „Pan-Hans“ als Arbeitsbegriff im „Zauberberg“ eine Rolle spielt. (4) Es ist nun auffällig, dass „Pan“ auch im Namen Naphta steckt: Liest man auf schon erprobte Weise die vorletzte Silbe rückwärts, kommt man auf „Pan“. Bei der letzten Silbe ist „ht“ als „th“ nach englischer Phonologie zu lesen. Eine solche Methode war schon bei der Erklärung von Dr. Krokowskis Vornamen „Edhin“ („nice“) hilfreich. (5) Zusammengesetzt wird aus Naphta „Pansa“: PANSA ist ein römischer Beiname und bedeutet „Plattfuß, Breitfuß“. (6)
Als Ergebnis können wir deshalb festhalten: Der jüdische Name kennzeichnet Naphta als streitbaren Diskussionspartner, ironisch als Bannerträger des Fortschritts und im versteckten Kern antisemitisch als "Plattfuß". Der "Widerspruch" im Kontext von Naphta ("sehr zierliche Füße") wird vom damaligen „kundigen“ Leser als Paradoxon erkannt.
Anmerkungen:
1. Die Zahlen in Klammern (Seite, Zeilenangabe) verweisen auf Thomas Manns Der Zauberberg, Bd. 5/1 (Textband) -2 (Kommentarband) – M. Neumann - der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. Hervorhebungen durch Fettdruck vom Autor. Abkürzung: Zb. Vgl. Kommentarband, S. 93. Naphtali ist der zweite Sohn Jakobs mit Bilha (Rahels Magd): 1. Mose 30, 4; 35, 25.; auch 49, 21: „Naphtali ist ein schneller Hirsch, er gibt schöne Rede“. 2. Brockhaus s.v. Naphta, , 8. Band, 18. Aufl., S. 111. Zu Naphta/Naphtha vgl. Beiträge: Spuren im „Zauberberg“: Knut Hamsun, Segen der Erde; Im Märchenland und „Die Reformationsgeschichte Lübecks. 3. Zitiert in: Juden im Wilhelminischen Deutschland: 1890-1914; ein Sammelband, hrsg. von Werner E. Mosse unter Mitw. von Arnold Paucker, 2. Aufl., Mohr Siebeck, 1998, S. 532, Anm. 153. 4. Vgl. Beitrag „Spuren im „Zauberberg“: Peter Altenberg, Wie ich es sehe (1896) und andere Werke. 5. Vgl. Beitrag: „Dr. Edhin Krokowski“. 6. Lateinische Lexika, z.B. Pons ,Globalwörterbuch Lateinisch-Deutsch, Klett. Eine Assoziation mit Sancho Panza, den Begleiter Don Quijotes, mag sich einstellen. Immerhin hat es der Jesuit Naphta persönlich und ideologisch mit Spanien zu tun: Zb 719, 31 („spanische Folter-und Prügelknecht“); 732, 26 („Wesen(s) in spanischem Schwarz“). Sancho Pansa ist Knecht seines Herrn und erinnert an dessen mittelalterliches Weltbild.