Spuren im „Zauberberg“: Richard Beer-Hofmann, Der Graf von Charolais (1905)
In dem Trauerspiel „Der Graf von Charolais“ (1905) lassen sich einzelne Motive des „Zauberbergs“ namhaft machen. (1)
Die Gläubiger (Paramentenmacher, Müller, Jude Itzig) erwirken bei Gericht die Pfändung des Leichnams von Vater Charolais, der als General Schulden für seine Truppen gemacht hatte (Cha 46, 12 – 17). Der junge Charolais beschreibt vor Gericht den zu erwartenden Verwesungsprozess des Leichnams im Schuldturm unter Sonneneinwirkung (Cha 122, 33 – 15):
Nachts darf ich um des Turmes Mauern irren, doch wenn die Sonne kommt, die Sonne, die uns wärmt, uns schmeichelt, die, die gut ist, die- so weiß ich, was sie vorhat, kenn‘ ihr Handwerk: „Sie stiehlt sich durch das Holz des Sargs, ist drinnen, betastet sanft den Leib, bis er geschmeidig – nein – heiß und weich wird, und zuerst dann nimmt sie die Augen sich, dann erst den Rest! Ich kenn‘ sie, weiß, wie sie’s macht! Es quillt, schwillt an und bläht sich, hebt an zu gähren, spannt sich, birst, hebt auf den Deckel, überfließt den Rand, perlt, tropft herab zu beiden Seiten – und am Boden die Lache, die zerrinnt – ist dann mein Vater!“
Der junge Charolais will mit der detaillierten Beschreibung des möglichen Verwesungsprozesses seines Vaters die Unterstützung des Gerichtspräsidenten Rochfort zu seinem Angebot an die Gläubiger erreichen, ihn als Pfand anstelle des Leichnams zu nehmen (Cha 114, 28 – 31). Die Rede endet:
„Herr, ich ertrag’s, ertrag‘ es nicht, daß er da oben fault!
PRÄSIDENT (stark einfallend): „Da oben fault“! Und wenn Ihr ihn begrabt – da unten nicht?! (Cha 123, 14 – 19).
Bei Beer-Hofmann wird das Motiv des Leichengeruchs ausgespart, der ja einen wesentlichen Unterschied ausmacht zwischen „oben“ und „unten“. Ein Sohn wird allerdings so nicht über seinen Vater sprechen können. Im „Zauberberg" (2)aber wird diese „Lücke“ geschlossen:
Castorps Onkel James fragt Hofrat Behrens bei Tische (3) „aus dem Stegreif“, „wie es sei, wenn der Mensch verwese“. „Der Hofrat habe doch das Körperliche studiert, der Körper sei ganz ausgesprochen seine Branche, er sei sozusagen eine Art Körperfürst, wenn man sich so ausdrücken dürfe, und nun solle er mal erzählen, wie es so zugehe, wenn der Körper sich auflöse!“ (Zb 660, 21 - 27).
Der „Körperfürst“ Behrens antwortet auf die flapsige Aufforderung von James detailliert und drastisch: „Vor allen Dingen platzt Ihnen der Bauch …Sie liegen auf Ihren Hobelspänen und Ihrem Sägemehl, und die Gase, verstehen Sie, treiben Sie auf, sie blähen Sie mächtig, so wie böse Bengels es mit Fröschen machen, denen sie Luft einblasen – der reine Ballon sind Sie schließlich, und dann hält Ihre Bauchdecke die Hochspannung nicht mehr aus und platzt. Pardautz, Sie erleichtern sich merklich, Sie machen es wie Judas Ischariot, als er vom Aste fiel, Sie schütten sich aus. Tja, und danach sind Sie eigentlich wieder gesellschaftsfähig. Wenn SieUrlaub bekämen, so könnten Sie Ihre Hinterbliebenen besuchen, ohne weiter Anstoß zu erregen. Man nennt das ausgestunken haben. Begibt man sich danach an die Luft, so wird man noch wieder ein ganz feiner Kerl, wie die Bürger von Palermo, die in den Kellergängen der Kapuziner von Porta Nuova hängen. Trocken und elegant hängen sie da und genießen die allgemeine Achtung. Es kommt nur darauf an, ausgestunken zu haben“. (Zb 660, 28 – 661, 12). James verschwindet am nächsten Tag vom Berghof (Zb 661, 13f.). (4)
Als Beispiel für das „Ausstinken“ wählt Thomas Mann einen allseits bekannten Juden: Judas Ischarioth. Die Interpretationsrichtung ist damit vorgegeben:
- Es wird allgemein (antisemitisch) die Stereotype aufgenommen, dass ein Jude besonders „stinkt», wie Judas (als „Verräter Christi“).
- Thomas Mann ersetzt – wenn man von der Quelle ausgehen darf - die jüdische Figur des „roten Itzig“ im Trauerspiel Beer-Hofmanns durch den „geschichtsträchtigen“ Judas Ischariot. Die Farbe „Rot“ wird schon länger vorbereitet in dieser Szene: Behrens hat “rot unterlaufenen Augen“, Frau „Redisch“ ist vom Namen her mit Rot verbunden (5), Bordeaux ist hauptsächlich ein Rotwein (Zb 660, 18f.). Auch das Beispiel Judas Ischarioth führt zur Farbe „Rot“. Bekanntlich erhängte sich Judas (Mt. 27, 3-5). Diesen Vorgang betont der Zusatz „Ast“. Eine Legende erzählt, dass der Baum, an dem sich Judas erhängte, vor Scham rot geworden sei (sc. die Blätter) (6). An eine andere Eigenschaft des „roten Itzig“ wird erinnert: Der mexikanische „Bucklige“ sitzt am Tisch (Zb 660, 15) (7), Behrens „blau quellende(n), rot unterlaufene(n) Augen» werden hervorgehoben (Zb 660, 17f.).(8)
- Der "Körperfürst" Behrens spricht in etwas barschem Tone „ad personam» zum jüdischstämmigen James Tienappel: Judas Ischarioth wirkt dabei als kollektives Bindeglied.
James ist engl. „Jakob“, sein Bruder heißt „Peter“ (Petrus). Der Vater James Tienappel wird im „Zauberberg“ vorgestellt mit „vorquellenden Augen hinter der goldenen Brille, einer blühenden Nase … und einem feurigen Brillanten“ (Zb 49, 15-18) – eine Häufung von Attributen, die Juden zugesprochen wurden. Zudem ist er geldgierig: Tienappel nimmt „zwei Prozent Provision“ von seinem Verwandten Hans Castorp (Zb 49, 1-5). „Keine vier Pferde“ (Zb 60, 1f.) bringen ihn ins Hochgebirge. (9) James ist wie sein Vater Konsul. Um Konsul zu werden, muss einmal die Taufe eines jüdischen Vorfahren erfolgt sein: erst dann war „allgemeine Achtung“ möglich.(10)
Das andere von Behrens genannte Beispiel mit den „Fröschen“ nimmt das Motiv der „Überfüllung“ von Frau Zimmermann auf: Ein „netter, komischer junger Mensch“ (Arzt) hatte Frau Zimmermann (Tiervergleich schon mit „Zeisig“: Zb 463, 8) „überfüllt“ (Zb 465, 26ff.), wie „ böse Bengels es mit Fröschen machen“.
Dieser „Binnenverweis“ fordert uns dazu auf, auch die Geschichte der „überfüllten“ Frau Zimmermann (Zb 463, 8 – 466, 26) mit Blick auf unsere Quelle zu untersuchen. Offensichtlich rechtfertigen die folgenden Punkte unsere Annahme des Herkunftsorts:
1. Das Wort „Perlen" (ZB 463, 28; 464, 13.20; 466, 19) 2. Die Ambiguität des Wortes „Lachen“ wird ausgenützt: Zb 463, 21f.28 („lachte beständig perlend“).31.; 464, 1.7.15.30; 466, 4.8.13 („perlend lachte“).21) 3. „Augen“ (Zb 463, 26): „neugierig“ (Die Sonne stiehlt sich gierig nach Neuem in den Sarg) 4. „Gans in Folio“ (Zb 466, 24f.) entspricht dem „gähren“ in der Hitze der Sonne 5. Kasten (Zb 464, 16), Zimmermann (Zb 464, 3f.; 465, 2.18; 466, 21) weisen auf „Handwerk“ und Holzsarg hin. 6. Warum ist der Hofrat ein „Furchtbar komischer Mann“, ein „fabelhaft komischer und amüsanter Mann“ (Zb 464, 14f.) und „so ein Bär, hahaha, hihihi“ (Zb 466, 10f.)? Thomas Mann nennt hier, durch Wortspiel(e) verdeckt, seinen Gewährsmann: Beer-Hofmann. 7. Die Rede von Frau Zimmermann an Castorp (Zb 464, 13 – 21) erinnert durch ihre Rhythmisierung an Versdichtung.
Als Ergebnis können wir festhalten: Thomas Mann hat sowohl bei der Geschichte der „überfüllten“ Frau Zimmermann (Zb 463, 8 – 466, 26) als auch bei der „Abschiedsszene» Tienappels (Zb 660, 8 – 661, 14) Beer-Hofmanns „Der Graf von Charolais“ benützt. Vielleicht können wir hier sogar einen Ratschlag Thomas Manns an Beer-Hofmann heraushören in dem Sinne: Wenn Du Figuren wie den „roten Itzig“ begräbst, bekämest Du als Autor „Urlaub“ (= Befreiung) vom „jüdischen Gestank“ und könntest die (erschreckten) „Hinterbliebenen“ (das deutsche Bürgertum) „amüsieren“ (vgl. Zb 464, 15). Ein „Ehrenplatz“ wäre Dir sicher, wie den „Bürgern von Palermo“. (11)
Das Motiv der Verwesung kommt in weiteren Variationen vor:
Bei einem medizinischen Diskurs während der Besichtigung der Bilder von Hofrat Behrens kommen Behrens und Castorp auf die „Totenstarre“ zu sprechen: „>> Ja so, die Totenstarre<<, sagte Hans Castorp munter. (12)>>Sehr gut, sehr gut. Und dann kommt die Generalanalyse, die Anatomie des Grabes.<< >>Na, selbstredend. Das haben Sie übrigens schön gesagt. Dann wird die Sache weitläufig. Man fließt auseinander, sozusagen. Bedenken Sie all das Wasser! (Zb 403, 26 – 31) Beim Röntgen sah Castorp „in sein eigenes Grab. Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichtes, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt, zu nichtigem Nebel gelöst …“ (Zb 333, 5 – 8). Der „Herrenreiter“ scheint sich noch lebend (also „oben“) in „organischer Auflösung“ zu befinden (Zb 25, 8; vgl. auch 404, 8f.; 432, 32). Settembrini unterstellt Naphta einen „Geist der Verwesung“ (Zb 381, 5f.; vgl. auch 445, 33f.).
Einige Einzelbeobachtungen sollen angefügt werden:
Der junge Charolais schätzt sich als mittelmäßig ein (Cha 39, 17 – 21):
„Siehst du, Romont, so war ich und so bin ich: Klüger nicht, nicht stärker, tapf’rer, schöner als die Menge, nicht groß, nicht klein – auch nicht um einen Zollbreit in irgendwas die Vielen überragend.“
Für Hans Castorp wird das Wort >>mittelmäßig<< vermieden „aus Achtung vor seinem Schicksal, dem wir eine gewisse überpersönliche Bedeutung zuzuschreiben geneigt sind“ (Zb 53, 7 – 13).
In Beer-Hofmanns Trauerspiel beantwortet Charolais vor der Leiche seiner Frau Desirée die Frage ihres Vaters: „Und tatest das--?
CHAROLAIS (aufstöhnend): Nichts tat ich! Mir Ward’s angetan – (Er faßt sich und zuckt die Achseln.) Auch das nicht – es geschah!“
Castorp hätte Arzt, Geistlicher, Verschiedenes werden können und ist jetzt eben Ingenieur: „Aus Zufall. Das waren wohl mehr oder weniger die äußeren Umstände, die darin den Ausschlag gaben“ (Zb 398, 21 – 399, 2). Nicht er entscheidet, sondern er wartet, bis „es sich dannentschied“ (Zb 55,1). Castorp macht vor Peeperkorn den Versuch einer Erklärung seines langen Aufenthalts im Sanatorium Berghof (Zb 924, 30 – 925, 28). Eine nonverbale Erklärung ist das „Achselzucken“ (Zb 17, 32; 20, 21; 152, 17; 1062, 27. Das Zufallenlassen der Türe „entsprach im Ausdruck jenem Achselzucken, mit dem Joachim ihn seinerzeit gleich am Bahnhof begrüßt, und das er seitdem so oft bei Denen hier oben gefunden hatte“ (Zb 348, 31-34).
Der 3. Akt schließt: „Ich seh‘! Ich seh‘!»(Cha 136, 15). Ein Unterkapitel im „Zauberberg“ führt den Titel: „Mein Gott, ich sehe!“ (Zb 310, 3).
Philipp zu Desirée: „Ich irre mich vielleicht Vielleicht hat er, sein Lebenlang, nur dich Ersehnt! Von dir geträumt, eh‘ er dich kannte! Hat deine Züge, wenn er sinnend saß, vorahnend in den Sand gezeichnet-und, da er dich endlich fand, genommen dich- wie er’s getan auch hätte, wenn er dich als Bettlerin am Weg hätt‘ sitzen sehen! Vielleicht war’s so!“ (Cha 159, 27-160, 3). Vgl. Zb 83, 10.25; 639, 33f.
Anspielung auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Cha 26, 21 – 27,2). (13)
Anmerkungen:
1. Richard Beer-Hofmann, Der Graf von Charolais. Ein Trauerspiel und andere dramatische Entwürfe. Hrsg. und mit einem Nachw. von Andreas Thomasberger, Igel Verlag Literatur, 1994 (Band 4 der Grossen Richard Beer-Hofmann-Ausgabe in sechs Bänden). Abkürzung: Cha 2. Die Zahlen in Klammern (Seite, Zeilenangabe) verweisen auf Thomas Manns Der Zauberberg, Bd. 5/1 (Textband) -2 (Kommentarband) – M. Neumann - der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. Hervorhebungen durch Fettdruck vom Autor. Abkürzung: Zb 3. Man erinnert sich dabei an die Zurechtweisung Castorps durch Frau Stöhr, als dieser bei Tische über den Todesfall des „Herrenreiters» sprechen wollte.(Zb 442, 20 – 32; 447, 30 – 448, 2). 4. Diese derbe Beschreibung der Verwesung dient natürlich auch dazu, der Romanfigur James einen unkomplizierten Abgang zu verschaffen. 5. Frau Redisch ist mit Frau Salomon (rotgekleidet: Zb 170, 24f.;) zusammen: Zb 452, 17 – 27; 454, 1; 464, 5f.; 659, 7 – 10) 6. Dazu Wikipedia, Stichwörter: „Iudas Ischariot“; „Gewöhnlicher Judasbaum“; „Kapuzinergruft Palermo“ 7. ITZIG: „den Buckel schneidt’s mir weg, der krumm is, weil Er ducken hat gemußt sich vor de andern; (Cha 62, 27f.) 8. CHAROLAIS: „Und wie er (sc. der rote Itzig) sprach, da war es mir, als wären sein Antlitz, seine Kleider nichts als Augen, als ungezählte Augen, alle quellend von Haß, und alle nur auf mich gezückt!“ 9. Biblische Anspielung: Offenbarung 6, 1-8 („apokalyptische Reiter“) 10. Zum Namen Tienappel vgl. Beitrag Spuren im „Zauberberg“: Ernst Deecke, Lübische Geschichten und Sagen (1852) 11. Zu Beer-Hofmann: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, hrsg. von Andreas B. Kilcher, 2012 (2. Aufl.), S. 38 – 41 (Hanna Delf von Wolzogen); Richard Beer-Hofmann (1866-1945) Studien zu seinem Werk. Hrsg. von Norbert Otto Eke und Günter Helmes, Würzburg 1993 12. Das Stichwort „munter“ wird von „munterer Betrieb“ im toten Körper (Zb 111, 19f.22.25; 112, 3) her mit Castorp verbunden. 13. Siehe Beitrag: Die „Geschichte von dem Sohn und Ehemann“ (Zb 302, 15 – 31)