Einigen Elementen der epischen Technik Homers soll im "Zauberberg"nachgegangen werden (12):
Epitheton ornans ("schmückendes Beiwort")
Bekanntes Beispiel für ein Epitheton in der "Ilias" ist "fußschnell" (Voß: "Renner") bei Achill . "Weißarmig" (Voß: "lilienarmig") sind Hera, Aphrodite, Helena, Andromache. (13)
"Elfenbeinfarben" ist ein ständiges Epitheton von Frau Levi (Zb 107, 17f.; 192, 11f.; 293, 29; 547, 13; 638, 30f.; 952, 28; 1018, 5; 1022, 19f.). Der Bezug zur antiken epischen Dichtung wird dadurch unterstrichen, dass "elfenbeinfarbene Levi" metrisch die zweite Hälfte eines Hexameters ausmacht: -uu -uu - x.
Ein weiteres Beispiel für ein "Epitheton ornans" ist "hinkend" beim Concierge (Zb 15, 24; 75, 14; 114, 26f.; 639, 14.26; 796, 5; 930, 25f.). Vorbild dafür könnte der "hinkende" Hephaistossein: Ilias 1, 607). (14)
Dazu gehört die "fette und leberfleckige Iltis" (Zb 78, 33; 80, 24; 107, 17). Die Romanfigur Gänser bekommt lange Zeit keinen Namen, sondern wird mit "Epitheta ornantia" bezeichnet: "untersetzter Jüngling mit Wulstlippen" (Zb 79, 20), "wulstlippige(n) Jüngling" (Zb 107, 15; 170, 20), "der Wulstlippige" (Zb 172, 2), "jenem Wulstlippigen, dessen Name Gänser war" (Zb 334, 30f.), "wulstlippige(n) Gänser" (Zb 352, 26; 359, 32). (15)
Wiederholungen von Formelsätzen (entsprechend den homerischen "Formelversen")
Einen großen Anteil an der "Ilias" haben "Formelverse" nach dem Muster: "Jener sprach´s, doch alle verstummten und schwiegen" (Ilias 8, 28.41.97.157.167.184.245.292 usw). "Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus" (Ilias 19, 154.215 usw).
Beispiele aus dem "Zauberberg":
Dableiben, um nicht wiederkommen zu müssen (Zb 277, 1ff.; 376, 9f.; 529, 27ff.; 534, 17f.).
Gewöhnung nur darin, dass man sich nicht gewöhnt (Zb 382, 21ff.; 366, 9f.; 528, 11f.; 587, 9f.; 713, 24f.; 731, 15ff.).
Uns friert nicht (Zb 647, 3f.; 650, 1; 657, 19; 658, 21)
Nun, so leb wohl und hab Dank! (Zb 181, 23f.28; 189, 14f.)
Wiederholungen von kleineren und größeren Textstellen
Ein gutes Beispiel ist die Vorbereitung des Zweikampfs Paris-Menelaos in der "Ilias". Paris (Alexandros) bietet Hektor an, mit Menelaos zu kämpfen (Ilias 3, 70-75). Hektor verkündet dies in gleichlautenden Worten den Achaiern und Troern (90-94). Herold Idaios meldet dies Priamos (253-258). Im Eid benützt Agamemnon ähnliche Worte (281-291). Nach dem Duell fordert Agamemnon gleichlautend den schon mehrfach genannten Kampfpreis (457-460). (16)
Diese Beispiele aus dem "Zauberberg"zeigen auch an, wie weit auseinander solche Wiederholungen liegen können:
Settembrini baggert Mädchen auf der Straße an (Zb 97, 4-11 101,3f.; 704, 21f.).
Wiederaufnahme von eben Gesagtem: Der nachfolgende Redner verwendet "postwendend"die Begriffe des Vorredners.
Agamemnon will ein Ehrengeschenk (Ilias 1, 118ff.). Achill greift das Wort "Geschenk" auf, verbindet es mit der Habgier Agamemnons und der Unmöglichkeit eines Ersatzes, weil alles verteilt ist. Er stellt aber einen Ersatz bei künftiger Beute in Aussicht (Ilias 1, 122-129). Ersatz ist für die Antwort Agamemnons dann das zentrale Wort, das er herausgreift (Ilias 1, 133-139).
Im ersten Gespräch mit Castorp (Zb 73, 25-75, 7) benützt Behrens Begriffe, die von Castorp anschließend im Gespräch mit Joachim aufgenommen werden (Zb 76, 7-78, 3):
Die Assoziationskette bleibt, aber die Glieder werden vertauscht. Der letzte Begriff bei Behrens ("Quecksilberzigarre") wird bei Castorp Ausgangspunkt für einen längeren Diskurs über das Rauchen und Zigarren (Zb 76, 26-77, 19).
Ausführliche Beschreibung
Detaillierte Beschreibung in "epischer Breite" bei Naturereignissen, Dingen und Tätigkeiten findet sich häufig in der "Ilias" : Tag und Nacht, das "Wettern" von Zeus, der Kampfwagen Heras/Athenes (Ilias 5, 722-731), die Toilette Heras (Ilias 14, 170-185) werden ausgedehnt gewürdigt. (17)
Ein ungewöhnlich großes Interesse wird im "Zauberberg" dem Liegestuhl entgegengebracht, auf dem man ausgezeichnet schlafen kann. (18) Könnte die Anregung dazu direkt von einer Iliasstelle kommen? Hera verspricht dem "Schlaf" einen Sessel, wenn er Zeus zum Einschlafen bringt (Ilias 14, 238-241). Die kunstvolle Bearbeitung und die Frage nach dem Hersteller (Hephaistos in der "Ilias") werden ausführlich im "Zauberberg" thematisiert. Der "Schlaf" ist der "leibliche Bruder desTodes" (Ilias 14, 231). "Tod" und "Schlaf" tragen Sarpedon, den Sohn des Zeus, in die Heimat (Ilias 16, 453ff.672f.581f.). Der Liegestuhl im "Zauberberg" nimmt diese Verbindung auf: Mit Hilfe der Decken liegt man wie eine "richtige Mumie" auf dem Liegestuhl (Zb 226, 16f.).
Rückgriff
In Rückverweisen wird die Vorgeschichte der Belagerung Troias nachgereicht: Poseidon (Ilias 21, 441ff.) - Paris-Urteil (Ilias 24, 28ff.) - Raub der Helena (Ilias 2, 161) - Erfolglose Gesandtschaft nach Troia (Ilias 3, 203-224) - Ausfahrt in Aulis (Ilias 2, 284) - (Belagerung Troias). Diese Rückverweise erfolgen innerhalb des Handlungsverlaufs.(19)
Im "Zauberberg" wird die Vorgeschichte teils außerhalb, teils innerhalb der Handlung eingebracht. Joachims und Castorps Biographie erfolgt separat. Zwischendurch erinnert Castorp daran, dass er "Doppelwaise" ist (Zb 299, 25; 303, 21f.; 1073, 1) und erinnert sich an den Großvater (Zb 235, 7-31; 587, 18-25). Die "Schulgeschichte" mit Pribislav erfolgt im Handlungsverlauf (Zb 183, 23-189, 12) ebenso Settembrinis Erzählung über seinen Vater (Zb 147, 9-148, 8; 233, 1 -235, 7: Großvater). Naphtas Biographie wird gesprächsweise bekannt (Zb 673, 22-25) , auch von Settembrini vorgestellt. Über Behrens wird außerhalb der Handlung berichtet (Zb 201, 15-203, 9).
Vorgriff
Achills und Hektors Tod werden angekündigt. (Ilias 18, 96; 19, 409; 22, 358ff; 23,80f.). (20)
Im Traum sieht Castorp "Joachim Ziemßen in sonderbar verrenkter Lage auf einem Bobschlitten eine schräge Bahn hinabfahren" (Zb 33, 5f.).
Castorp sieht sein eigenes Grab (Zb 333, 5).
Aufzählung
In der sog. "Teichoskopie" ("Mauerschau": Ilias 3, 166-244) zeigt Helena Priamos (im 10. Kriegsjahr!) die Helden der Achaier. Der "Schiffskatalog" und "Troierkatalog" stehen im 2. Gesang, der "Myrmidonenkatalog "im 16. Gesang.
Castorp und Ziemßen sehen "während der Kurmusik auf der Terrasse" von einem abseits stehenden Tischchen auf die Gäste (Zb 170, 3 - 171,13), wobei Joachim Castorp über den "Jungen mit dem Fingernagel" informiert. Aufgezählt werden auch die Zuhörer bei Dr. Krokowski (Zb 192, 2-25). Zur Geselligkeit treffen sich die Gäste nach dem Essen (Zb 129, 19-130, 34). Auf der Veranda sind die Gäste bei schönem Wetter (Zb 352, 16-353, 22). Auch hier werden sie einzeln benannt. Ebenso wird detailliert das Angebot beim ersten Frühstück aufgezählt (Zb 68, 25-30). Die besuchten "moribundi" werden genannt (Zb 678, 3-6).
Beispiele
Beispiele sollen Achill wieder zurück zum Kampfe führen: Phoinix erzählt von Meleager (Ilias 9, 527-599), Nestor von sich (Ilias 11, 670-762).
Als abschreckendes Beispiel erzählt Settembrini die Geschichte vom Sohn und Ehemann (Zb 302, 15-31). Wie schlecht das Klima für manche ist und wie groß die Gefahr einer Fehldiagnose sein kann, trägt er am Beispiel der Deutschrussin vor (Zb 297, 16 - 298, 8).
Gleichnisse
In der "Ilias" gibt es eine Vielzahl von Gleichnissen (z.B. Ilias 4, 482-487; 16, 156-163; 16, 641-644).
Albin : "Unheilbar, meine Damen, - sehen Sie mich an, wie ich hier sitze, bin ich unheilbar,-der Hofrat selbst macht kaum noch ehren- und schandenhalber ein Hehl daraus. Gönnen Sie mir das bißchen Ungebundenheit, das für mich aus dieser Tatsache resultiert! Es ist wie auf dem Gymnasium, wenn es entschieden war, daß man sitzen blieb und nicht mehr gefragt wurde und nichts mehr zu tun brauchte. Zu diesem glücklichen Zustand bin ich nun endgültig wieder gediehen. Ich brauche nichts mehr zu tun, ich komme nicht mehr in Betracht, ich lache über das das Ganze" (Zb 124, 21-30). Auf Castorp macht "jenes dem Schulleben entnommene Gleichnis" Eindruck und erinnert ihn an seine eigene Schullaufbahn. Der Gedanke daran, "endgültig des Druckes der Ehre ledig" zu sein und "auf immer die bodenlosen Vorteile der Schande" zu genießen vermittelt Castorp "ein Gefühl von wüster Süßigkeit" (Zb 125, 10-26; vgl. auch Zb 537, 11ff.; 802, 20-23).
Strukturelle Anregung
Im 19. Gesang der "Ilias" tritt Achill wieder in den Kampf ein. Die großen Helden der Achaier machen für Achill die Bühne frei: Diomedes, Odysseus und Agamemnon scheiden verwundet aus dem Kampfe aus (Ilias 19, 47-52). Auch der starke Aias und Menelaos treten erst wieder bei den Leichenspielen für Patroklos auf (Ilias 23).
Joachim räumt im "Zauberberg" seinen Platz für Peeperkorn: Joachim stirbt im 6. Kapitel ("Als Soldat und brav"), im 7. Kapitel erscheint Mynheer Peeperkorn. Nach seinem Tode ("Mynheer Peeperkorn (Schluß) ist wieder Joachim an der Reihe ("Fragwürdiges"). Die Führung von Figuren und Motiven konnte Thomas Mann also schon bei Homer studieren und nicht nur bei Richard Wagner, der sich selbst intensiv mit der "Ilias" beschäftigte. Wie eine Unmutsäußerung über das Nebeneinander von Castorp und Joachim klingt es, wenn Settembrini die Rangordnung der beiden feststellt (Zb 17-25). (21)
Auktoriale Wertungen
Die Missbilligung des Dichters erfährt Achill, als er im Skamander mit dem Schwert rast und 12 troianische Jünglinge fängt, um sie bei der Leichenfeier für Patroklos zu opfern: "und entsetzliche Taten ersann er" (Ilias 21, 19; 23, 175f.; vgl. auch 2, 37f.).
Castorp ist ein"Brotsack", eine "schlichte Person" (Zb 53, 10), ein "unbedeutender Held" (Zb 877, 23) und ein "Sünder" (Zb 1079, 13).