Spuren im "Zauberberg": Jakob Wassermann, Das Gänsemännchen (1915)
Auf den Titel "Das Gänsemännchen" bringt Wassermann der Gänsemännchen - Brunnen in Nürnberg (Gm 93, 18f.). (1)
Im "Zauberberg"(2) kommt eine Nebenfigur überraschend spät zu ihrem Namen: "Gänser" (Zb 79, 20; 107, 15; 170, 20; 172, 2; 334, 27.29.30f.; 335, 14; 352, 26; 359, 32; 361, 20.22; 362, 11.12.16; 490, 14; 496, 18; 510, 7). Die Rede ist von einer Person, "dessen Name Gänser war. Man stand nach der Hauptmahlzeit im Speisedunst zwischen den Tischen herum" (Zb 334, 31f.). Offensichtlich wird hier auf den Namen des Romans "Das Gänsemännchen" angespielt. (3) Der letzte Buchstaben von "Gänser" und der erste Buchstaben von "man" ergeben außerdem das Kürzel "rm", das Wassermann unter seine Beiträge für die "Frankfurter Zeitung" setzte (4). Bei "war" kann man das Spiel fortsetzen: "wa" für Wassermann und wieder "rm".
Gänser wird im "Zauberberg" als "wulstlippig" gekennzeichnet (etwa Zb 79, 20). Natürlich ergibt sich diese Assoziation von einer Gans her, wird aber schon von Wassermann vorbereitet: Die Baronin von Auffenberg "hatte ein breites, aufgeschwemmtes Gesicht mit dicken Lippen" (Gm 202, 18f.).
Die Gesprächsteilnehmerin Hermine Kleefeld könnte über das "Gänsemännchen" Gänser zu ihrem Nachnamen gekommen sein. Bekanntlich ist ein Kleefeld für Gänse ein willkommenes Nahrungsangebot. Gänser ist deshalb "vom Tische der Kleefeld" (Zb 359, 32f.; 362, 11f.; 490, 14f.; 496, 17f.). Schon bei ihrem ersten Auftreten bietet sie das Bild eines von Gänsen zertretenes Kleefeld mit ihrem"grünem Sweater" und "schlecht frisiertem Haar" (Zb 79, 2f.). Außerdem macht sie einen "dümmlichen Eindruck (eben wie eine "dumme Gans") mit ihren "dummen, nur halb geöffneten Augen" (Zb 79, 3f.8f.; 335, 8f.). (5)
Das Gespräch findet im "Speisedunst" (Zb 335, 1) statt: Die Lebensperspektive von Gänsen wird eingefangen.
Der Vorname Hermine weist noch auf einen anderen Aspekt von "Kleefeld" hin: Hermine leitet sich von Hermes ab, dem "Seelengeleiter". (6) Mit Klee wurden früher Gräber bepflanzt, ein Friedhof konnte wie ein Kleefeld aussehen. Diese mortale Perspektive unterstreicht auch die Fortsetzung des obigen Textes: ">>Es möchte kein Hund,<< sagte Gänser hinter den Zähnen, >>so oder ähnlich noch viel länger leben.<< " (Zb 335, 14f.; "Hund" auch Zb 137, 3f.). Der Vergleich mit einem "Hundeleben" findet sich schon im "Gänsemännchen": Auf einem Friedhof unterhalten sich Daniel und Benda. Sie stehen vor Feuerbachs Grab:">>Was für ein Leben hat der Mann geführt!<< sagte Benda leise; >>und was für einen Tod ist er gestorben! Den Tod eineshinausgejagten Hundes.>>" (Gm 113, 3ff.).
Merkwürdig ist die Aufforderung Kleefelds an Rasmussen Witze zu machen (Zb 335, 11). Das Stichwort führt zwar zum nächsten Textabschnitt (Zb 335, 14f.: Ironie, Zynismus), wird aber vom Kontext wenig motiviert. Die Vermutung liegt nahe, dass hier eine Szene im "Gänsemännchen" Pate gestanden hat, in der die Dreierkonstellation Carovius, Jason Philipp Schimmelweis und der Apotheker Pflum vor dem Gänsemännchen-Brunnen stehen und Schimmelweis den "beste(n)Witz" (Gm 303, 25) macht, nämlich im Gänsemännchen mit seinen zwei Gänsen Daniel und Gertrud/Lenore zu sehen.
Eine weitere Nebenfigur im "Zauberberg" trägt den Namen "Düstmund" (Zb 232, 18f.). (7) "In der letzten Nacht hatte sich, seiner (sc. Settembrinis) Erzählung nach, das Hündchen der Madame Capatsoulias aus Mytilene auf den Knopf des elektrischen Lichtsignals auf dem Nachttisch seiner Herrin gesetzt, woraus viel Rennerei und Tumult entstanden war, besonders, da man Madame Capatsoulias nicht allein, sondern in Gesellschaft des Assessors Düstmund aus Friedrichshagen gefunden habe" (Zb 232, 13 - 19).
Friedrichshagen (damals noch nicht eingemeindeter Vorort Berlins) war um 1900 Sitz des "Friedrichshagener Dichterkreises". Dieser Herkunftsort Düstmunds signalisiert, dass sich hinter Düstmann ein Dichter verbirgt. Viele bieten sich an, die zeitweise in Friedrichshagen wohnten oder dorthin Beziehungen pflegten. (8) Franz Mehring bezeichnete diesen Kreis als "Musenhof am Müggelsee". (9) Das macht die zweite Ortsbezeichnung "Mytilene" verständlich: In Mytilene lebte Sappho, die "Zehnte Muse". (10) Von hier aus kann man dann auch den Namen von Madame Capatsoulias zu erklären. Eine Verbindung zu Sappho ergibt sich, wenn man den griechischen Namen Capatsoulias englisch auflöst: "cap at soul", also "Mütze, die (einem) an der Seele liegt", verbunden mit der griechischen Endung - ias. (11) Angespielt wird damit auf eine Geschichte, dass Sapphos Tochter Kléis kein Haarband (Mitra), das sie gerne wollte, bekommen kann wegen der politischen Zustände. (12)
Jedem Leser des "Gänsemännchen" fällt nun auf, dass Wassermann seinen Roman in den Bereich des "Düsteren" rückt. Dies geschieht nicht nur durch den dramatischen Inhalt (Gertruds Selbstmord, Lenores Kindstod, Philippine), sondern Wassermann gibt uns die Wertung explizit vor:
Auch den zweiten Teil des Namens Düstmund liefert das "Gänsemännchen". Dort taucht ein Impresario namens "Dörmaul" auf (Gm 102, 19.25.30; 103, 10.13; 144, 14; 174, 28; 177, 10.18.32; 181, 31; 183, 22; 390, 7; 398, 15; 494, 29; auch "Dortmund" ist vertreten: Gm 451, 33f.). (13)
Wassermann gehört zwar nicht zum "Friedrichshagener Dichterkreis", aber er kann als "Beisitzer" (Assessor) dieses Literatenklubs gelten. Mit vielen ist er über seine Mitarbeit an Zeitschriften und durch den nahen Umgang mit seinem Verleger S. Fischer (Berlin) bekannt. Wir können deshalb annehmen, dass Thomas Mann mit "Düstmund" Jakob Wassermann bezeichnet. Ein Kenner wie sein Biograf Thomas Kraft qualifiziert Wassermann als "düsteren Franken", über den sich seine Umgebung mokiert habe. (14) Eine besondere Pointe liegt dann darin, dass sich Wassermann nachts in der Gesellschaft einer der bedeutendsten Dichterinnen der Weltliteratur befindet: Thomas Mann schickt Sappho spöttisch zu Wassermann, der nicht nur für seine amourösen Abenteuer bekannt war (15) , sondern kundtat, dass "Frauen keine schöpferische Phantasie" und nur die Aufgabe hätten "Leben zu empfangen". (16)
Die Namensähnlichkeit des Holländers Mynheer Peeperkorn mit einem Unteragenten Jason Philipps ist evident: Dieser heißt Pfefferkorn (Gm 248, 24.29f.; holländisch: "peper" = Pfeffer). Andere Bezüge zu Peeperkorn lassen sich bei Benda, dem Freund Daniels, nachweisen.
Benda erzählt Daniel von seinen Abenteuern (Gm 538, 31-540, 15; Ankündigung Gm 224, 11- 15). Chinin erwähnt Benda schon am Anfang (Gm 539, 1), das auch Peeperkorn ausführlich würdigt (Zb 873, 15-23; 875, 2-6). Benda bringt einen Knaben mit, "einen Zwerg aus dem ungeheuren Urwald nördlich vom Kongo. Er war mir ergeben auf den Wink" (Gm 539, 20ff.). Bei Peeperkorn ist es ein ihm ergebener malaiischer Kammerdiener (Zb 829, 4).
Am Stammtisch wird von Benda erzählt, dass er als Jude wohl kein Lehramt an einer Universität bekäme: "Das versteht sich allerdings von selbst, meinte Herr Carovius, obschon dieser Bendadurchaus nicht wie ein Jude aussehe, eher wie ein Holländer, ein ziemlich fetter Holländer. Er sei zwar nicht ganz blond, aber auch nicht ganz schwarz, und seine Nase sei so gerade wie ein Lineal. Eben, das sei ja der neue jüdische Kniff, antwortete der Assessor und tat einen gewaltigen Schluck aus seinem Maßkrug; in alten Zeiten hätten sie den gelben Fleck getragen, hätten Geiernasen gehabt und Haare wie die Buschmänner, heute sei kein Christenmensch mehr sicher, daß er nicht dem einen oder dem andern gelegentlich mal aufsitze. Dem wurde zugestimmt (Gm 69, 21-33).
Kommt man vom "Gänsemännchen" her, verfestigt sich der Eindruck, daß Pieter Peeperkorn von dort den (jüdischen) Namen Peeperkorn (Pfefferkorn) und den Status eines Holländers erhält. Äußere und innere Klischees sind vorhanden: Peeperkorns Nase ist "groß und fleischig" (Zb 830, 27f.; 880, 6f.). Er ist "ein Mann der Undeutlichkeit und des Gefühls, dasGefühl ist geradezu seinePuschel, - verzeihen Sie den umgangssprachlichen Ausdruck!" (Zb 882, 20-23; vgl. 1037, 19).
Inspektor Jordan fühlt sich zu Puppen hingezogen (Gm 108, 32-109, 21). Nach jahrelanger Arbeit (Gm 386, 3-33; 465, 16-19; 469, 24-28) führt er seine sprechende und singende Puppe Herrn Carovius vor (Gm 563, 5-564, 16). Gab diese Puppe mit die Anregung ein Grammophon im "Zauberberg" zu installieren? Ähnliche Beschreibungsmerkmale zeigen sich andernorts:
"Hans Castorp war allein mit den Wundern der Truhe in seinen vier Wänden, - mit den blühenden Leistungen dieses gestutzten kleinen Sarges aus Geigenholz, dieses mattschwarzen Tempelchens" (Zb 974, 4-7).
"Opus und Opus lag in der großen Truhe (sc. Daniels) und kein Mensch bekümmerte sich um die in einem Sarg ruhenden Schätze von Musik" (Gm 393, 13ff.).
Auch der Einfall, die einzelnen Musikstücke ausführlich und gefühlvoll zu interpretieren (in "Fülle des Wohllauts", Zb 966, 7-990, 21) könnte von der Darstellung der schöpferischen Phantasie Daniels im "Gänsemännchen" inspiriert sein (Gm 143, 13-25; 186, 22-27; 215, 10-31; 227, 20-34; 236, 21-29; 275, 26-277, 4; 297, 16-23; 310, 6-11; 319, 20-26; 360, 25-362, 15; 394, 7-10; 426, 8-12; 458, 16-32; 476, 17-31; 477, 29-478, 7; 495, 25-496, 12; 511, 4-7; 572, 16-573, 12; 578, 8-34).
Settembrini hat eine "politische Abneigung gegen die Musik" (Zb174, 4; 175, 27f.; 285, 6f.). Musik sei "das halb Artikulieret, Zweifelhafte, das Unverantwortliche, das Indifferente" (Zb 173, 24f.). Die negative Seite der Musik betont Professor Herold im "Gänsemännchen": " Wissen Sie (sc. Daniel) denn nicht, daß gerade die Musik das nichtswürdigste Gesindel in ihren Zauberkreis zieht? Item, daß sie eine Ausrede ist für jede Versäumnis von Menschenpflichten?
Daniel "träumt, träumt, träumt" an seiner Arbeitsstelle beim Lederhändler (Gm 21, 31f.). Castorp hatte eine "Neigung zu >>dösen<<, wie sein Onkel Tienappel sich ausdrückte, nämlich mit schlaffem Munde und ohne einen festen Gedanken ins Leere zu träumen" (Zb 50, 7ff.).
Daniel sieht das Ölportrait seines Vaters: "es zeigte einen Mann von ernster Haltung und erinnerte an einen der fürstlich aussehenden Zunftmeister des Mittelalters. Da erkannte Daniel den Weg, der ihn durch die Geschlechterreihe dorthin geführt hatte, wo er war" (Gm 24, 9-13; 214, 20-26). Castorp sieht das Gemälde seines Großvaters als Ratsherrn der Stadt (Zb 42, 25-44, 19). Beide Gemälde haben ihren "Platz über dem Sofa" (Gm 214, 22; Zb 42, 28f.: "Platz über dem großen rotseidenen Sofa").
Daniel ist 23 und hat nichts zu essen (Gm 58, 29f.). Er "schloß sich aus von einer Welt, von der er Brot haben wollte; nur Brot und sonst nichts" (Gm 272, 5f.). Der 23jährige Castorp sagt sich von seiner Welt los, bezieht aber den Unterhalt von ihr in Form einer ausreichenden Rente. Begriffe aus dem "Gänsemännchen" wie "Mehlsack" (Gm 498, 23; 499, 14) oder "arbeitsscheuerBrotsitzer" (Gm 271, 8) fallen dem Leser zu Castorp ein. Beide finden wieder den Weg ins Kollektiv zurück.
Von einer "Spiritistengemeinde" (Gm 211, 3f.) fühlt sich Eberhard von Auffenberg angezogen: "Seelische Müdigkeit beraubte ihn des Widerstandes; es war etwas zerbrochen in ihm (sc. wegen seines vergeblichen Bemühens um Lenore). Eine angeborene Zweifelsucht hinderte ihn nicht, sich einem Einfluß hinzugeben, der seiner Natur ursprünglich noch fremder gewesen war als die pöbelhafte Geschäftigkeit der Alltagswelt. Mit eingeschläfertem Urteil schürfte er in einem Bezirk, wo das Trugbild und die oberflächliche Bezauberung herrscht, nach Quellen des Lebens" (Gm 211, 5-12). Castorps "Neugier, die das Gefühl ihrer höheren Hoffnungslosigkeit in sich selbst trug, das heißt: das Bewußtsein der geistigen Unzulänglichkeit des Gebietes, wonach sie tastete" (Zb 996, 30-34) siegt über "sein Widerstreben gegen solche Erfahrungen, ein Geschmackswiderstreben, ein ästhetisches Widerstreben, ein Widerstreben humanen Stolzes" (Zb 997, 9-12).