Spuren im "Zauberberg": Jakob Wassermann, Caspar Hauser (1908)
Der todkranke Caspar Hauser begann "zu delirieren. Quandt war entschlossen, an das Delirium nicht zu glauben. Als Caspar aus dem Bett springen wollte, schrie er ihn an: >>Machen Sie nicht solche widerlichen Umstände, Hauser! Gehen Sie schleunigst in Ihr Bett zurück. << Der Pfarrer Fuhrmann trat gerade in das Zimmer und hörte dies. >>Aber Quandt! Quandt! << sagte er entsetzt. >> Ein wenig Milde, Quandt, im Namen unserer Religion. >> Oh! << versetzte Quandt kopfschüttelnd. >> Milde ist hier schlecht angebracht. In Nürnberg, wo er doch auch so eine verworfene Komödie aufgeführt hat, gebärdete er sich genauso, und ich habe mir sagenlassen müssen, daß er dabei von zwei Männern gehalten worden ist. Was mich betrifft, ich lasse mir so ein Schauspiel nicht bieten. << Frau von Imhoff hatte eine Pflegerin vom Krankenhaus geschickt, die über Nacht an Caspars Lager wachte." (CH 445, 17 - 31). (1)
Die Episode im "Zauberberg"von dem Patienten, der "absolut nicht sterben wollte" (Zb 87, 1 - 88, 2), könnte darauf zurückgehen. (2)
1. Joachim fasst das Verhalten des Sterbenden als "Schlappheit" auf (Zb 87, 1.23). Quandt nennt als Beweis für die Annahme, dass Hauser simuliere:" >> Sieh doch selbst, der sonst so wehleidige Mensch (sc. Hauser) klagt ja mit keiner Silbe über Schmerzen. <<" (CH 445, 12f.).
2. Behrens zu dem Sterbenden: "Stellen Sie sich nicht so an" (Zb 87, 5.10 ("gefälligst").17).
3. Die Oberin hilft den Sterbenden festzuhalten und erzählt dies.
4. In Pfarrer Fuhrmanns Rolle schlüpft Castorp mit seinem Einspruch: Ein Sterbender ist "ehrwürdig", "heilig" (Zb 87, 18 - 21; vgl. auch Castorps Neigung zum geistlichen Beruf: Zb 168, 23ff.; 282, 30; 441, 15; 445, 7). (3)
5. Castorp qualifiziert das Verhalten von Behrens: "Fährt auf ihn los" (Zb 87, 16), ein Einfall, zu dem "Fuhrmann" anregt.
Ein paralleles und noch groteskeres "Schauspiel" wird am Totenbett des Herrenreiters aufgeführt (Zb 442, 7 - 15):
"...einem Sterbenden gebühre jeder Respekt und Ehrenaufwand, darauf bestehe Hans Castorp. Er wolle nur hoffen, daß Behrens den Herrenreiter zuletzt nicht angeschrien und pietätloserweise gescholten habe? Kein Anlaß, erklärte die Schildknecht. Einen kleinen, unbesonnenen Versuch zu entwischen habe der Herrenreiter zwar zuletzt noch gemacht und aus dem Bett springen wollen; aber ein leichter Hinweis auf die Zwecklosigkeit solchen Beginnens habe genügt, ihn einfür allemal davon abstehen zu lassen".
Thomas Mann akzentuiert also anders: Während Caspar Hauser von Quandt als Simulant behandelt wird und sich Quandt in einem Schauspiel wähnt, macht Thomas Mann offensichtlich Moribunde zu Hauptrollen grotesker Inszenierungen. Dies gilt in abgeschwächter Form auch für die von den Vettern besuchten Moribunden.
Zur Überwachung Caspar Hausers wird ein Soldat namens Schildknecht abkommandiert (CH 374, 3f.). Dieser Name wird zur Überschrift eines Kapitels verwendet (CH 386, 1), aber auch außerhalb dieses Kapitels oft genannt (4). Im "Zauberberg" ist derName von Schwester Berta "in Wirklichkeit Alfreda Schildknecht" (Zb 165, 26f.; s. "Romanfiguren"). Sie betreut einen Patienten namens Fritz Rotbein (Zb 165, 11f.)., dessen Namen von einem Grafen "Rotstrumpf" im "Caspar Hauser" angeregt sein kann (CH 35, 4).
Die blutigen Spuren des Mordanschlags auf Caspar Hauser werden zunächst mit Nasenbluten in Verbindung gebracht (CH 115, 1). Die Spuren eines harmlosen Nasenblutens Castorps (Zb 182, 31) bewirken, "daß er einem von frischer Tat kommenden Mörder glich" (Zb 190, 18f.; 1067, 27).
Woher kommt der Einfall mit der "Seelenzergliederung" (Zb 20, 28f.; 198, 22)? Natürlich kann man hier bis zur Antike zurückgehen (Platon, Aristoteles). Eine Anregung dazu finden wir aber auch im "Caspar Hauser": Als Graf Stanhope auf die Übersendung der Caspar-Hauser-Schrift keine Reaktion zeigt, sinniert Feuerbach über seine Bemühungen: "Dazu also Herzen zergliedert, im Dunkel der Seelen gewühlt ...?" (CH 349, 23f.).
Das Verhältnis zwischen Settembrini und Castorp lässt sich zum Teil mit dem zwischen Lord Stanhope und Caspar Hauser vergleichen: "So gingen sie dahin, anzusehen wie Freunde, in einer ihrem Schicksalskreis fremden Region aufrichtig einander ergeben, den Unterschied der Jahre und der Erfahrung ausgleichen durch ein williges Schenken von der einen und ein nicht minder williges Empfangen von der anderen Seite" (CH 284, 19 - 24). Settembrini ist Castorps "Mentor" (Zb 989, 7; 1079, 20), wobei ihr Umgang miteinander Schwankungen unterworfen ist.
Besondere Aufmerksamkeit wird im "Zauberberg" den Händen entgegengebracht (Zb 36, 52, 11f.; 73, 5f.; 116, 20; 119, 3 - 6; 142, 5ff.; 342, 30ff.; 481, 26ff.; vgl. auch den Jungen mit Monokel/Fingernagel in "Romanfiguren"). Diese Vorliebe finden wir schon im "Caspar Hauser" (CH 38, 3 - 11; 91, 2 - 7; 158, 22 - 25; 314, 37 - 315, 3; 334, 20f.; 371, 14; 372, 31f.; 434, 10 - 13; 439, 7ff.).
"Geistesöde ging wie ein kelleriger Hauch von ihr (sc. Frau Magnus) aus" (Zb 642, 11f.). In Gegensatz zu dem, der "aus der Ferne kam" (sc. Lord Stanhope) setzt Hauser "die Nahen": "ihr Atem war dumpf wie Kellerluft" (CH 120, 12 - 18). Ihr Antlitz war "nicht schwarz vermummt" (CH 120, 18f.). Thomas Mann bündelt dies zu: "Melancholie umgab dieses Paar (sc. Herr und Frau Magnus) atmosphärisch" (Zb 642, 7f.).
Caspar Hauser hält die Schneeflocken für "kleine beflügelte Tierchen" (CH 73, 6f.). Im "Zauberberg" wird den Schneeflocken ein ganzer Abschnitt gewidmet (Zb 723, 3 - 22).
"Siebenschläfer" wird Caspar Hauser einmal von Quandt genannt (CH 305, 21). Der Vergleich findet sich auch im "Zauberberg" (Zb 1077, 30; 1078, 31).
Gelbe Zähne signalisieren Gefahr (CH 98, 29ff.). Die obskuren Figuren Hickel (in "Caspar Hauser") und Dr. Krokowski sind beide mit gelben Zähnen ausgestattet (CH 315, 12; 450, 15; Zb 30, 31; 278, 32; 290, 29f.; 527, 8).
Das Öffnen einer Truhe durch Lord Stanhope (CH 178, 14 - 35) bietet die Möglichkeit den Inhalt detailliert aufzuzählen und die Herkunft zu bezeichnen. Der Großvater zeigt seinem Enkel Hans das Innere eines Glasschranks mit vielen Gegenständen (Zb 37, 20 - 38, 3), wobei er nur auf das Taufgefäß näher eingeht.
Frau Behold "blinzelte mit den Augen, ihre Unterlippe wurde schlaff und entblößte eine schmale, feste Zahnreihe wie bei einem Nagetier" (CH 101, 30ff.). Frau Stöhr bemüht sich, "eine feingebildete Miene zu machen, indem sie die Oberlippe von ihren schmalen und langen Hasenzähnenzurückzog" (Zb 70, 10ff.).
Naphta macht dem Exerzitienleiter mit seinen Fragen "die Hölle heiß": "Und dem in die Engegetriebenen Pater blieb nichts übrig, als ihn zum Gebet zu ermahnen, damit er zur Ruhe der Seele gelange" (Zb 672, 2ff.). Der Kandidat Regulein ist in ähnlicher Lage gegenüber Caspar Hauser: "der unbarmherzige Frager trieb ihn aus einer Verschanzung in die andere, bis das verzweifelteArgument aufgestellt werden mußte, es sei unrecht, über dunkle Gegenstände des Glaubens zu forschen" (CH 83, 11 - 14).
Schillers "Don Carlos" findet begreiflicherweise größtes Interesse bei Caspar Hauser, der in seine Rechte eingesetzt werden will (CH 375, 11; 384, 1 - 15). Im "Zauberberg" soll der mit "Don Carlos" verbundene Hinweis auf das strenge spanische Zeremoniell die Bandbreite "menschlicher " Lebensformen illustrieren.
Der "heimatlose Findling" Caspar Hauser (CH 93, 11) will sich "heimweisen" lassen (CH 36, 35; 37, 5f.; 45, 23 - 27; 189, 9 - 13; "heimgehen": 189, 9f.). Schuberts "Lindenbaum" (Zb 985,28-986, 30; 1084, 7-10.28ff.) könnte als "Heim-Weise" daran erinnern. Hauser findet bei dem "Heimweisen" den Tod. Castorps "Heimsuchung" erfüllt sich im Felde (Zb 1079, 9 - 14).
Caspar Hauser ist mit der Unterkunft beim Lehrer Quandt zufrieden: "Ich hab' ja mein Brot undmein Bett, mehr brauch' ich nicht, und das Bett ist das Allerbeste, was ich auf der Welt kennengelernt habe, alles andre ist schlecht" (CH 403, 32 - 35). Entwickelt sich daraus die Betonung des vorzüglichen Liegestuhls (und Essens) im "Zauberberg"? Castorp (= "Brot + Sack") "erinnert sich nicht, daß ihm je ein so angenehmer Liegestuhl vorgekommen sei" (Zb 104, 22f.), "man liegt ja darauf wie im Himmel" (Zb 105, 23).
Die reiche Verwendung des Wortfeldes "düster" im "Caspar Hauser" bestätigt unsere schon früher gewonnene Erkenntnis, dass sich hinter dem Namen "Düstmund" im "Zauberberg" Jakob Wassermann verbirgt (5). Darüber hinaus scheint auch eine andere Bezeichnung auf Wassermann zu weisen:
In der Schlussphase des Romans sitzt Castorp am "Schlechten Russentisch". Seine Tischnachbarn werden aufgezählt, darunter auch ein "Bucharier" (Zb 1071, 4). Zunächst wird man an das Herkunftsland denken: "Bochara oder Bucharien lag zwischen Turkistan und Afghanistan, im heutigen Usbekistan" (6). Nun wird als "Bucharier" auch eine jüdische Gruppierung bezeichnet, Teil der Juden Zentralasiens, die "Nachfahren jener Juden sind, die aus Jerusalem in die Babylonische Gefangenschaft geführt wurden, die sich nach der Befreiung durch die Perser, im gesamten Großpersischen Reich angesiedelt haben, auch in Buchara" (7). Wird man so auf die jüdische Perspektive geführt, liegt der Gedanke nahe, "Bucharier" als "Buch - Arier" zu lesen.Ein "Buch-Arier" ist ein "nichtarischer" (jüdischer) Schriftsteller / Verleger, der "arische" Bücher verfasst / herausgibt.