Spuren im "Zauberberg": Jakob Wassermann, Christian Wahnschaffe (1919)
Die Romanfigur Johanna Schöntag in Wassermanns "Christian Wahnschaffe" trägt zur Ausgestaltung Marusjas im "Zauberberg" bei (1) : Bei der Aufführung eines Lustspiels amüsiert sich Johanna Schöntag "über einen Darsteller, der eine ernsthafte Rolle zu spielen hatte, aber so gespreizt redete, daß sie bei seinem Auftreten jedesmal ihr Spitzentaschentuch vor den Mund preßte, um ihre Lachlust zu bändigen" (CW 299, 25 - 29). (2) Johanna Schöntag besucht ihre "Hassliebe" Amadeus Voß: " Der erste Besuch Johanna Schöntags bei Voß verlief banal. Indem sie die junge Dame vergessen zu machen suchte, war sie es erst recht. Um ihre Beklommenheit zu verbergen, gab sie sich kapriziös. Sie war erheitert darüber, daß ein Schaukelstuhl im Zimmer stand; "wie bei Großmama," sagte sie; "man wird gleich anachronistisch angeheimelt;" dann setzte sie sich hinein, schaukelte sich, zog kandierte Früchte aus ihrem Perltäschchen und ließ sie auf der Zunge zergehn, was ihr einen komisch schmollendenAusdruck verlieh" (CW 526, 9 - 17). Voß schildert Johanna seinen Zustand (CW 526, 25 - 527, 2). "Johannas heimliche Furcht wuchs, als sie ihn sentimental werden hörte. Sie sagte: "Dieser Schaukelstuhl ist das Erfreulichste, was mir seit langem vorgekommen ist. Er erzeugt so eine angenehme Seekrankheit in mir. Wird die Partei, die unter Ihnen wohnt, nicht glauben, Sie sind Vater geworden und wiegen Ihr Neugeborenes?" Sie lachte, verließ den Stuhl, trank Tee, knabberte Backwerk, dann nahm sie jäh Abschied. Voß knirschte. Die Hand war ihm leer geblieben" (CW 527, 3 - 11). "Er setzte den leeren Schaukelstuhl in Bewegung und redete mit einer unsichtbaren Person, die drinnen lehnte und sich seinen Blicken kokettentzog" (CW 527, 16ff.). Aus den beiden Stellen lassen sich folgende Vergleichspunkte herausarbeiten: 1. Die lachlustige Marusja stopft vor lauter Kichern (Zb 112, 19f.) ihr Orangentüchlein (Zb 232, 20f.; 263, 9 - 13) in den Mund (weitere Stellen zu Marusja in "Romanfiguren"). 2. In der Abschiedsszene Joachim - Marusja (Zb 803, 18 - 804, 16) liegt Marusja imSchaukelstuhl. Joachim hält ihn fest (=unterbricht die Bewegung). Marusja blickt Joachim insGesicht (anders die "unsichtbare Person"). Es ist das erste Mal, dass Joachim mit Marusja spricht (Zb 804, 7f.). 3. Die Anspielung auf "Vaterschaft" wird im "Zauberberg" durch die Namen erweitert: Joachim als Vater von Maria (vgl. Beitrag 7). 4. Die "Großmama" wird im "Zauberberg" zur Großtante Marusjas, die russisches Konfekt austeilt (Zb 177, 3ff.). 5. Den Inhalt des Gesprächs im "Zauberberg" muss der Leser erschließen: Joachim spricht "leise und abgerissen", "während sie manchmal lächelnd und erregt - geringschätzig mit den Schultern zuckte" (Zb 803, 30 - 33). Die gezwungene Atmosphäre des Besuchs Johanna Schöntags bei Amadeus Voß wird kongenial übertragen in das hoffnungslose Gespräch zweier "Horizontaler". 6. Johannas Lob des Schaukelstuhls findet seine Fortsetzung in Castorps Begeisterung über den Liegestuhl: Castorp "erinnerte sich nicht, daß ihm je ein so angenehmer Liegestuhl vorgekommensei" (Zb 104, 22f.).
Johanna Schöntag sitzt mit Crammon in einer Hotelhalle, als sieim Garten eine Nonne sieht (CW 292, 17 - 27): "Ha, eine Nonne, eine Nonne," unterbrach sie sich bestürzt und sah mit weitaufgerissnen Augen in den Garten, wo eine Ursulinerin vorüberging; sie schlug die Arme kreuzweis übereinander und zählte mit erstaunlicher Zungenläufigkeit: Sieben, sechs, fünf, vier,drei, zwei, eins." ... "Ist das der Brauch, wenn eine Nonne erscheint?" erkundigte sich Crammon fachmännisch angeregt. - "Die rituelle Vorschrift, ja. Aber sie war verschwunden, bevor ich bei eins war, das bedeutet nichts Gutes." Castorp (Zb 62, 17 - 33) sieht im Garten eine schwarzgekleidete Frau ( = Nonne im schwarzen Habit). Sie passt ihren Tritt einer Marschmusik an. Diese Rhythmisierung ist bei Johannas Zählung vorweggenommen: Ihre Zahlen werden durch die Zahlen "Eins-Zwei-Drei-Vier" im Vorfeld der Motivübernahme ersetzt, also durch den Takt einer Marschmusik.Schon in der Vorlage wird die Zahl "Zwei" hervorgehoben, weil die Nonne bei "Eins" weg ist. "Zwei" wird im Namen "Tous-les-doux" verwendet und bedeutet "nichts Gutes": Ihre beiden Kinder sterben auf dem "Berghof". "Zungenläufigkeit" und "Brauch" ("rituell") finden ihren Niederschlag in der ewigen Wiederholung ihrer Klage.
In unmittelbarem Anschluss an diese Szene hat Castorp sein Erlebnis mit dem russischen Ehepaar (Zb 62, 33 - 64, 16. 23 - 26). Auch dafür gibt es eine Vorlage bei Wassermann (CW 267, 5 - 30) (3): Crammon wandert in einem Flur seines Hotels auf und ab und sieht an den Türen paarweise geordnet die Herren- und Damenstiefel. " Dieses Gepaartsein der Stiefel erregte allmählich seine Wut. Er erblickte darin eine prahlerische undschamlose Zuschaustellung ehelicher Begebenheiten. Denn das Eheliche und offiziell Gestattete erkannte er am Bau und Wuchs der Stiefel. Er glaubte ihnen eine mißgelaunte und überlang dauernde Zusammengehörigkeit anzumerken, eine breite, von der Wucht der Renten verursachte Getretenheit, eine niedrigeGesinnung, einen selbstgerechten Dünkel. Er vermochte dem Anreiz nicht zu widerstehen, Verwirrung unter ihnen anzurichten." Crammon vertauscht die Stiefel und kann sich in der Frühe die Streitereien anhören wie eine "erbauliche Morgenmusik". Festzuhalten ist hier: 1. Aus der optischen wird bei Thomas Mann eine akustische Wahrnehmung. 2. Die Rückschau in die Vergangenheit (alte Stiefel) ersetzt Thomas Mann durch zeitnahes Vorspiel und Höhepunkt. 3. Castorps "ehrbare Verfinsterung seiner Miene" (Zb 63, 18f.) entspricht der Bewertung Crammons. 4. Das anerkannte Recht der "Eheleute" wird durch Zeit ("am hellen Morgen") und Hinweis auf Schonung von Kranken relativiert. 5. Gegenmaßnahme: bei Crammon Vertauschung der Stiefel, bei Castorp nutzloser Rückzug vor Geräuschen und Weigerung, das russische Paar später näher kennenzulernen (Zb 67, 13 - 20). 6. "Marschmusik" (Zb 62, 30) und "Walzerklänge" (Zb 63, 30) begleiten im "Zauberberg" das Geschehen. Crammon "genoß das Stimmengezeter wie eine erbauliche Morgenmusik" (CW 267, 29f.).
Fräulein Stöhr ist die Gesellschafterin von Gräfin Brainitz (CW 196, 4.10; 200, 24; 472, 13; 585, 21; 586, 1.7; 703, 31). (4) Die Gräfin erzählt: "Als mein seliger Mann sein Ende kommen sah, schickte er mich nach Mentone, " sagte sie zu Fräulein Stöhr. "Ich bin nun einmal nicht fürden Anblick von Leiden geschaffen. Das Karitative liegt mir nicht." Fräulein Stöhr machte ihre geistlichen Augen, mit Blick nach oben ... Sie sagte: " Der Mensch sollte sich beizeiten an den Todesgedanken gewöhnen, Frau Gräfin." Die Gräfin erwiderte entrüstet: "Liebe Frau Stöhr, sparen Sie sich die Brahminenweisheit für Zeiten der Not. Geistliche Tröstungen sind nicht mein Fall. Ihre Aufgaben ist es nicht, mir Wahrheiten zu predigen, sondern mich angenehm zu unterhalten" (CW 197, 7 - 20). Im Gegensatz zu Fräulein Stöhr tabuisiert Frau Stöhr im "Zauberberg" den Tod und übernimmt damit die Rolle derGräfin (5). Wie die Gräfin ihre Gesellschafterin Stöhr, so weist Frau Stöhr Castorp zurecht, als dieser den Tod des Herrenreiters erwähnt (Zb 442, 23 - 32). Darauf fasst "der Gescholtene" den Entschluss, "dem abgeschiedenen Hausgenossen durch einen Besuch und stille Andachtsverrichtung an seinem Lager die letzte Ehre zu erweisen" (Zb 442, 32 - 443, 3). Castorp ist "geistlich angeregt" durch den Besuch beim toten Herrenreiter (Zb 445, 7). Schon das gräßliche Husten des Herrenreiters, das Castorp am Ankunftstag auf dem Wege zum Restaurant hört, versetzt seine Augen in "einen erregten Glanz" (Zb 25, 33f.). Die Interpretation dazu liefert Wassermanns Roman. Amadeus Voß schreibt an Johanna Schöntag über Christian Wahnschaffe: "Ich habe seine Blicke glänzen gesehen, als ich vom Sterben einer Verworfenen sprach " (CW 385, 26f.; auch vom Tod anderer). Voß führt das bei Christian Wahnschaffe auf eine "unheimliche, nimmersatte Neugier" zurück (CW 385, 19f.; 404, 3). Neugier gehört zum Wesen Castorps (Zb 996, 28; 997, 2.14.26.27).