Spuren im "Zauberberg": Jakob Wassermann, Der Moloch (1903)
Tetzner lädt Arnold Ansorge zu sich ein: "Junger Freund, hier gibt es die seltensten Schnäpse der Welt und vieles andere, was sich sonst nur auf der Tafel des Großkhans der Bucharei findet" (Mo 180, 15 - 18, 34. Kapitel). (1) Diese Stelle könnte für Thomas Mann der ursprüngliche Assoziationspunkt gewesen sein, Jakob Wassermann als "Bucharier /Buch-Arier" (Zb 1071, 4) zu bezeichnen. (2)
Die Übernahmetechnik Thomas Manns ist augenfällig bei den folgenden Stellen:
Castorp träumt vom Schulhof. Es ist Pause. "Ein Lehrer im Schlapphut beaufsichtigte das Treiben, indem er in eine Schinkensemmel biß" (Zb 184, 4ff.). Wie kommt es zu dieser Kombination? Tetzner ist bei Verena: "Solange es Tee und Schinken auf Erden gibt, soll man nicht über die Liebe reden, das ist richtig", sagte er in seiner wiederkehrenden kaustischen Manier. Breitbeinig stellte er sich vor den Tisch, starrte ins Licht der Lampe und trällerte mit veränderter, heiserer Stimme: "Wenn es bei einer Hochzeit ist, / Da sollt ihr sehen, wie er frißt; / Was er nicht frißt, das steckt er ein, / Das arme Dorfschulmeisterlein. / Wenn er einmal gestorben ist, / Legt man ihn sicher auf den Mist. / Ach, wer setzt einen Leichenstein / Dem armen Dorfschulmeisterlein." Dann warf er den Wettermantel um, nahm den Schlapphut und sein Buch und entfernte sich, ohne Abschied genommen zu haben" (Mo 202, 5 - 21, 38. Kapitel). (3)
"Als sie (sc. Anna Borromeo) auf den Korridor trat, hört sie sonderbare Laute. Der vordere Teil des Flurs war erleuchtet; um zu Borromeos Zimmer zu gelangen, mußte sie, schon im Halbdunkel, um eine Ecke biegen. Aber hier sah sie auf einmal Borromeo. Er stand regungslos und murmelte vor sich hin. "Friedrich! Friedrich!" rief Anna erschrocken" (Mo 310, 6 - 12, 55. Kapitel). Castorp erschrickt über das Husten des Herrenreiters "hinter einer Biegung des Korridors" (Zb 24, 28 - 25, 1).
"Eigentlich ging sie (sc. Natalie Osterburg) nicht, sondern schob sich vorwärts. Der Oberkörper, weit zurückgeneigt, schien nur lose mit den Beinen verbunden, wodurch ihre Bewegungen etwas Automatisches erhielten. Bei jedem Schritt nickte sie mit dem Kopf wie eine Taube" (Mo 122, 6 - 11, 23. Kapitel). "Im Stehen und Gehen schob er (sc. Castorp) den Unterleib etwas vor, was einen nicht eben strammen Eindruck machte; aber seine Haltung bei Tische war ausgezeichnet. Er wandte den aufrechten Oberkörper höflich dem Nachbarn zu, mit dem er plauderte ..." (Zb 52, 16 - 19).
"Ihre (sc. Petras) vorgeschobene Oberlippe gab dem verständigen Gesicht einen altjüngferlichen Ausdruck" (Mo 129, 6ff., 25. Kapitel). Mylendonk hat einen Mund mit "schief vorstehender Unterlippe" (Zb 254, 19).
Die besonderen Gesichtsmerkmale "Warze" (Mo 16, 9 - 12; 17, 5ff., 3. Kapitel; Mo 233, 1f., 43. Kapitel) und "Narbe" auf Wange (Mo 128, 23, 25. Kapitel) können zur Erwähnung des "Gerstenkorns" der Oberin anregen (Zb 254, 17; 320, 7ff.). Dazu gehören auch die "wulstige(n)Lippen" Tetzners (Mo 217, 25, 40. Kapitel), die Gänser im "Zauberberg" auszeichnen (s. Beitrag "Romanfiguren").
Arnold Ansorge verlässt eine Gesellschaft mit dem Hinweis, er wolle sich jetzt waschen. "Zuerst entstand ein peinliches Schweigen. Dann lächelte Anna Borromeo, darauf lächelte auch Emmerich Hyrtl und stemmte die Arme auf die Hüften. Es lächelten auch Drusius und Petra König. Dann blies Hyrtl die Backen auf und verfiel in einen wahren Lachkrampf, aus der er schließlich die Beteuerung hervorächzte, er habe sich nie so göttlich unterhalten. Anna Borromeo drohte ihm scherzhaft mit dem Finger" (Mo 110, 8 - 15, 21. Kapitel). Im "Zauberberg" wird die Reihenfolge der Motive "Lachen" und "Drohen" vertauscht: Außer Miß Robinson (und Joachim) drohen alle, ebenfalls namentlich aufgezählteTischgenossen Castorp mit dem Zeigefinger (Zb 262, 30 - 263, 18). "Selbst die Großtante am oberen Tischende drohte ihm scherzhaft und verschlagen zu" (Zb 263, 7ff.). Nach der Erklärung Castorps folgt das Lachen aller (Zb 263, 25).
"Frau König lag im Bette und trank Sauerstoff aus einem großen Ballon, welchen die Wärterin hielt" (Mo 272, 14f.; 273, 12, 49. Kapitel). Castorp will nach der Bedeutung der Ballons vor den Türen fragen, vergisst es aber dann (Zb 22, 14 - 18). Nun ist ein Sauerstoffballon in einem Lungensanatorium leicht zu finden. Eine andere Frage für den Schriftsteller ist es, ob er dieses Motiv in seinen Roman aufnehmen soll. Im Allgemeinen gibt es die Tendenz, sich von anderen Berufskollegen inspirieren zu lassen und gerade ihr Motiv vor vielen anderen ebenfalls auszusuchen. Der Vorteil ist, eine Möglichkeit der Ausgestaltung schon zu sehen und seine eigene davon abzusetzen. Thomas Mann übernimmt hier einzelne Aspekte des Ballons, die Wassermann andeutet, und erweitert sie: 1. "Krampfhaft klammerte sie (sc. Frau König) sich an das Leben, wie sie es verstand", ein behagliches (nur mit Nichtigkeiten ausgefülltes) Leben, noch "gern ein paar tausend Jahre lang" (Mo 273, 18 - 26, 49. Kapitel). Der Herrenreiter ("zäher Kavalier", Zb 441, 19) hält sich "mit Hilfe gewaltiger Mengen Sauerstoffs", konsumiert einen Tag vor seinem Tode vierzig teure Sauerstoffballons (Zb 441, 21ff.) und macht noch "einen unbesonnenen Versuch zu entwischen" (Zb 442, 11). 2. In unmittelbarem Textzusammenhang wird über den Kleiderkauf Natalies ein Geldmangel des Schwiegersohns Osterburg angedeutet: "Du bist eine leichtsinnige Frau," fuhr er fort, "ich traue mich nicht eine Zigarre zu kaufen und du -" (Mo 273, 3f.). Der Herrenreiter hinterlässt, auch angesichts seines Sauerstoffkonsums, eine mittellose Gemahlin (Zb 441, 21 - 27). 3. Thomas Mann verknüpft also in direkter Weise die Stichwörter der Vorlage "Ballon" und "Geldmangel" (erschlossen), lässt dann Joachim und Castorp über die Sinnhaftigkeit des Aufwandes diskutieren (Zb 441, 27 - 442, 8). 4. Das "Ballonmotiv" wird zweihundert Seiten später ironisch zum Abschluss gebracht: Behrens erklärt Konsul Tienappel, dass er als Leiche (vorübergehend) "der reine Ballon" sei (Zb 660, 33). (4)
Der Topos: "Das Verhalten eines alten Dieners am Totenbett seines Herrn" wird in beiden Romanen verwendet: Durch die angelehnte Tür sahen sie (Hanka, Arnold), wie der Diener, allein mit dem Toten (sc. Hyrtl), sich mit natürlicher Verehrung über die Leiche beugte und die Hand des Herrn küßte" (Mo 289, 5 - 8, 51. Kapitel; auch 287, 16 - 32; 31: "der weinende Mensch"). (5) Fiete ist Diener des Großvaters Hans Lorenz Castor. Seine Augen sind rot (Zb 45, 13f.), er "weinte" (Zb 45, 20). Ehrerbietige Handlung auch bei ihm: Fiete "verscheucht Fliege" (Zb 47, 22 - 30). Das Auftreten eines Bestatters kann ebenfalls als "Versatzstück" angesehen werden, wobei Thomas Mann die Ausgestaltung Wassermanns im Blick hat: "Fremde Leute traten ein, die einen Ausdruck komischer Finsternis in ihr Gesicht gelegt hatten, als ob sie versprochen hätten, eine Stunde nicht zu lachen" (Mo 288, 4ff., 51. Kapitel). Die Ähnlichkeit zu Fietes "ehrbaren Verfinsterung seiner Miene" (Zb 47, 24) in gleicher Situation ist offensichtlich. Aus den "fremden Leuten" Wassermanns wird "ein Verwandter des in Anspruch genommenen Bestattungsinstituts" (Zb 813, 33f.).Dieser "Mann allein" kann dann breit karikiert werden (Zb 813, 32 - 814, 10).
Allgemeinplatz ist auch das Umgehen der Militärpflicht: "Durch die weitgehenden Verbindungen Friedrich Borromeos bildete die Militärpflicht (sc. Arnold Ansorges) Jahre voraus keine Sorge mehr für Frau Ansorge" (Mo 9, 12 - 15). Hans Castorp braucht dank Beziehungen (Stabsarzt Dr. Eberding) nicht zum Militär (Zb 57, 18 - 24).