Spuren im "Zauberberg": Gustav Meyrink, Der Golem (1915)
Im "Zauberberg" werden neben Hofrat Behrens, dem dirigierenden Arzt des Berghof - Instituts (Zb 201, 28), gewinnsüchtige Ärzte anderer Heilanstalten vorgeführt: Prof. Kafka (Zb 98, 3) und Dr. Salzmann (Zb 98, 13). (1) Nun mögen manchen Lesern solche Typen aus persönlicher Erfahrung bekannt sein (Stichwort etwa: "erschwerte Bedingungen"), sodass man aus der Schilderung eines solchen Arztes im "Golem" nicht gleich eine literarische Abhängigkeit im "Zauberberg"annehmen muss, auch wenn einzelne Elemente gleich sind. (2)
Im "Golem" diagnostiziert der geldgierige Augenarzt Dr. Wassory bei seinen Patienten "Grünen Star" und verdient durch unnötige Operation ("Iridektomie"). Wegen Erblindungsgefahr sei eine sofortige Operation nötig. "Gesprächsweise ließ er einfließen, daß ein dringender Ruf aus dem Auslande behufs wichtiger, wissenschaftlicher Maßnahmen an ihn ergangen sei und er daher schon morgen verreisen müsse" (Golem Kap. "I",42, 1- 4). "Und mit den Worten, daß er zur Operation leider erst in einigen Monaten schreiten könne, wenn er von seiner Reise wieder zurücksei, schloß Dr. Wassory seine Rede" (Golem Kap. "I", 43, 20ff.). Die Frage der Patienten nach einem anderen Augenarzt beantwortete Dr. Wassory damit, dass ihnen die nötige Übung in der Iridektomie fehle, auch würden neuerliche Voruntersuchungen zu viel Zeit kosten (Golem Kap. "I", 44, 10 - 15). Die Patienten bieten hohe Summen an, damit er den Tag der Abreise verschiebe und sie operiere. "Und je mehr das Scheusal sich sträubte und jammerte: ein Aufschub seiner Reise könne ihm unabsehbaren Schaden bringen, desto höhere Summen boten freiwillig die Kranken" (Golem Kap. "I", 44, 28 - 45, 2).
Wie Dr. Wassory setzt Prof. Kafka das Reisen als Hebel zur Gewinnmaximierung ein: Gerade wenn die Patienten abreisen wollen, ist er weg und dies für lang Zeit. Die Entlassung der Sanatoriumsgäste verzögert sich dadurch. Ihre längere Verweildauer bringt mehr Geld (Zb 98, 3 - 9). Im "Golem" bleibt Dr. Wassory länger da, im "Zauberberg" die Patienten. Das Ziel ist gleich: höherer Profit.
Dr. Wassory ist Jude (Sohn des jüdischen Trödlers Aaron Wassertrum). Auch bei Thomas Mann müssen wir erwarten, dass geldgierige Ärzte jüdischer Herkunft sind. Die sonst übliche klischeehafte Beschreibung eines Juden erübrigt sich, wenn sofort ein bekannter jüdischer Name die literarische Figur offenkundig zum Juden "stempelt". Dazu bedarf es dann auch keiner besonderen Vorlage. Trotzdem könnte es sein, dass nicht nur das Motiv Geldgier ("Erwerbssinn": Zb 98, 2), sondern auch der Name "Kafka "von Meyrinks Roman ausgeht.
Der Name "Kafka" kommt im "Golem" nicht ausdrücklich vor. Aber zu Beginn des Romans wird von einer "Krähe" erzählt: >> Eine Krähe flog zu einem Stein hin, der wie ein Stück Fett aussah, und dachte: vielleicht ist hier etwas Wohlschmeckendes. Da nun die Krähe nichts Wohlschmeckendes fand, flog sie fort" ("Golem" Kap. "Schlaf", 7, 18 - 21). Eine Krähe in einem Roman, der in Prag spielt und gar in der "Judenstadt", lässt den Leser sofort an Franz Kafka denken (tschech. "kafka" = Krähe). (3)
Kann man Franz Kafka als Namensgeber für Professor Kafka im "Zauberberg" glaubhaft machen, liegt es nahe, auch im Namen Dr. Salzmann (Zb 98, 13 - 21) den Namen eines bekannten Juden zu vermuten. Es bietet sich hier der jüdische Schriftsteller Felix Salten an, ehemals Siegmund Salzmann (4).
Nun könnte mit dem Namen Franz Kafka auch das Fliegen der Krähe im "Zauberberg"übernommen sein. Immerhin reist Prof. Kafka dorthin, wo es etwas zum Verdienen gibt, wie die Krähe dorthin fliegt, wo sie etwas Wohlschmeckendes vermutet.
"Bis nach Fiume lasse man Kafka kommen" (Zb 98, 9f.). Warum gerade Fiume? Fiume ist neben den Namen der beiden Literaten der dritte Namen in diesem Textabschnitt. Sollte "Fiume" auf derselben Bedeutungsebene wie Kafka und Salzmann liegen, also auf einen dritten Schriftsteller hindeuten? Über Franz Kafka lässt sich erklären, warum Prof. Kafka nach Fiume kommt: Franz Kafka berichtet in einer Art Reisebeschreibung von den Flugtagen in Brescia 1909, bei denen er Gabriele d´Annunzio sieht. (5) Durch seine "Heldentaten" ist Gabriele d´Annunzio signifikant mit Fiume verbunden. (6)
Das verbindende Moment unserer "Substrate" Franz Kafka und Gabriele d´Annunzio ist also das Fliegen.
Der dritte Schriftsteller Felix Salten (Dr. Salzmann) befindet sich damit in Einklang: Bei ihm "sterben die Leute wie Fliegen" (Zb 98, 20f.). Das Wort "Fliegen" ist zwar unauffällig in einen gängigen Vergleich eingebunden, zeigt sich aber durch seine Stellung am Ende des Abschnitts als Interpretationshinweis des ganzen Abschnitts und als Bestätigung für die Annahme, dass hinter Dr. Salzmann Felix Salten steht. Die Tätigkeit "Fliegen" zu verdinglichen und in Tiere umzuwandeln, ist bei einem Schriftsteller, der Tiergeschichten schreibt, überzeugend. (7) Gleichzeitig nimmt der Vergleich die vielen Todesfälle in Saltens Literatur aufs Korn..(8) Einen zusätzlichen Hinweis auf Felix Salten könnten die Worte enthalten: " Er (sc. Prof. Kafka) fahre auf Gummi, sage Salzmann, damit seine Toten ihn nicht hörten" (Zb 98, 15ff.). Hier dürfte eine Kombination zweier Motive aus den Novellen Saltens vorliegen: "denn er geht überLeichen" ("Orestes", S. 45) und "fährt auf Gummirädern" ("Das Manhard - Zimmer", S. 122).
Eine weitere Stelle in Meyrinks Roman könnte Ausgangspunkt sein für eine Episode im "Zauberberg", in der sich ein "Aviateur" präsentiert.
Ein Alter (Karl Zottmann) ist hinter der "rothaarigen Rosina" her. Er "starrte mit vorquellenden Augen unverwandt auf den Torbogen des Hauses gegenüber" (Golem Kap. "Prag", 49, 28f.). "Der Alte war bemüht, ihr Zeichen zu geben, und ich (sc. der Traumprotagonist) sah, daß sie es wohl wußte, aber sich benahm, als verstünde sie nicht. Endlich hielt es der Alte nicht länger aus, watete auf den Fußspitzen hinüber und hüpfte mit lächerlicher Elastizität wie ein großer schwarzer Gummiball über die Pfützen" (50, 7 - 13).
Frau Schönfeld, "eine rothaarige und rotäugige Kranke", betrachtet gierig einen "Aviateur" (Zb 707, 2 - 12), der sich dann auch an sie ranmacht. >> Wart, Nixe! << flüsterte er im Lift an ihrem Ohr, so daß eine Gänsehaut sie überlief" (Zb 707, 12f.). Warum redet er sie mit "Nixe" an? Im "Golem" ist die rothaarige Rosina Tochter des Trödlers Aaron Wassertrum. Ist der Name "Wassertrum" der Nukleus der Episode? Nixe und Wasser gehören natürlich zusammen, ein Marineflieger ist die dazu passende Besetzung (9).
Das Motiv des Anmache wird auch Settembrini zugeordnet (Zb 97, 4 - 11; 101, 3f.; 340, 9ff.; 704, 21f.). "Du süßes Käferchen, willst du die Meine sein?" (Zb 97, 8f.). (10) Auf den ersten Blick soll Settembrini etwas von seiner (verdächtigen) Mentorenrolle (Zb 1075, 14) entlastet und sein italienisches Temperament betont werden. Aber Meyrinks Episode könnte noch zu einem anderen Aspekt führen: "Ich (sc. der Traumprotagonist) begriff nur, daß sie den Alten in der Judenstadt den >> Freimaurer << nannten und in ihrer Sprache mit diesem Spitznamen jemand bezeichnen wollten, der sich an halbwüchsige Mädchen zu vergehen pflegt" (Golem Kap. "Prag", 50, 19 - 22). Settembrini ist bekanntlich Freimaurer (etwa Zb 764ff.). Ein Leser Meyrinks könnte diesen Aspekt in den "Zauberberg" mitnehmen und die Aktion Settembrinis als Seitenhieb auf die Freimaurer empfinden.
Auf die oben zitierte Attacke des Alten lassen sich die folgenden Stellen direkt beziehen: Beim Auszug aus dem Sanatorium zwickt Settembrini eine Saaltochter in die Wange "noch unterm Portal", also Torbogen (Zb 541, 24f.). Settembrini lässt seine Worte "springen (= hüpfen) und rollen ... so elastisch wie Gummibälle" (Zb 155, 23f.). (11)