Spuren im "Zauberberg": Hermann Bahr, O Mensch (1910)
Name und Gestaltung der Romanfigur Hermine Kleefeld im "Zauberberg" (1) lassen sich auf Hermann Bahrs Roman "O Mensch" (2) zurückführen:
1. Der Maler Radauner malt nichts anderes als Klee: " Sein Kleefeld, das er immer malte, jahraus, jahrein, zu allen Zeiten, lag schon ganz im Dunkel. Aber er wußte doch, daß da vor ihm unten sein altes Kleefeld lag. Jetzt schlief es schon" (OM 2. Kp., 64, 16 - 20). (3)
2. Der transzendente Aspekt des Kleefeldes ist deutlich: Das Kleefeld liegt bei den Pappeln (OM 2. Kp., 74, 20). Pappeln sind Friedhofsbäume. Radauner hat beim Malen ständig einen schwarzen Hut auf. Unmittelbar nach dem Tode des Nußmenschen malt Radauner wieder seinen Klee (OM 6. Kp., 316, 17ff.). Im "Zauberberg" wird die klagende Kleefeld von Castorp in Schutz genommen: Sie kann doch "jeden Tag ins Gras beißen" (Zb 337, 11). Die heimliche spiritistische Sitzung findet im Zimmer Kleefelds statt (Zb 1000, 24f.; 1012, 7f.). Sie ist die "Wirtin" (Zb 1001, 9). Bei Krokowskis Sitzung spielt Kleefeld eine herausgehobene Rolle (Zb 1020, 18 - 21). Ihr Vorname "Hermine" lässt sich mit "Hermes", dem Seelengeleiter, assoziieren.
3. Für Radauner ist der Klee ein "Luder" (OM 2. Kp., 79, 9.12) (4) Hermine Kleefeld unterhält sich im "Zauberberg" mit Rassmussen und Gänser (Zb 334, 28 - 335, 16). Settembrini benützt die Gelegenheit, um auf Kleefelds "Lotterleben", ein Synonym für "Luderleben", hinzuweisen (Zb 335, 23). Kleefeld lümmelt sich "recht liederlich" in einem Korbsessel (Zb 713, 16). Die Eigenschaft, die Radauner dem Gegenstand seiner Malerei ("Klee") zuschreibt, wird zur Figur Kleefeld mitgenommen.
4. Auch Name und Eigenart des Malers selbst werden verwertet. Radauner ist ein "sprechender Name": Er "grunzte" (OM 65, 6), schnaubt, hustet, röchelt, lacht (OM 65, 9ff.), lacht gröhlend (OM 68, 18), schreit (OM 96, 2.5.14; 97, 10.22). Radauner macht "Radau". Entsprechend erschreckt Hermine Kleefeld im "Zauberberg" Castorp durch ein Geräusch, nämlich durch Pfeifen (Zb 297, 9ff.; 354, 6 - 15).
5. Der Maler Höfelind "pfiff vor sich hin, in Erinnerung (sc. an einen Theaterbesuch)" (OM 78, 18). Auch OM 103, 13f.: "Da hörten sie ein leises Pfeifen, wie wenn eine Amsel gelacht hätte". Castorp hört ein "Tiuu" (Zb 81, 23), das Geräusch wird verbal nachgebildet. Statt mit einer Amsel erfolgt im "Zauberberg" der Vergleich mit einem "Jahrmarktsschweinchen" (Zb 79, 12), initiiert durch das "Grunzen" Radauners (OM 65, 6). Das Jahrmarktsschweinchen pfeift nicht lachend, sondern klagend (Gegensatz). Die Identität "Pfeifen / Lachen" der Amsel wird durch "Pfeifen / Klagen" ersetzt und das jetzt überständige "Lachen" bekommt einen neuen Aussagewert: Über das Pfeifen lacht die Gruppe (Zb 79, 20.23).
Der Unterschied zwischen Malerei und Bildhauerei ergibt sich witzig aus einem Gespräch zwischen den Malern Höfelind und Radauner:
"Höfelind ging die sieben Bilder an der weißen Wand ab, nickte dann und sagte: "Und am Schluß sieht man, daß es erst wieder falsch ist! Denn hat man einen Menschen ganz gemalt, und alles was er ist, und das ganze Wesen davon, dann zeigt sich, daß er es dann erst wieder nicht ist! Um ihn wirklich zu treffen, müßt man nämlich auch noch hineinmalen, daß er auch das Gegenteil ist, das Gegenteil von dem, was er ist! Mal aber einen Menschen und sein Gegenteil dazu!" "Du denkst zu plastisch, sagte der Alte. Das mußt du schon den Bildhauern überlassen. Die können sich vorn und hinten zugleich vergnügen, wir müssen schon auf einer Seite bleiben. Aber vielleicht überschätzt du auch den Hinterteil des Menschen! Glaubst nicht?" (OM 4. Kp., 203, 25 - 204, 10).
1. Die Bedenken Höfelinds werden im "Zauberberg" aufgenommen. Castorp sollte sich für Plastik interessieren, meint Behrens, " weil die es doch am reinsten und ausschließlichsten mit dem Menschen im allgemeinen zu tun hat" (Zb 395, 25ff.).
2. Settembrini hat eine "plastische Art zu sprechen" (Zb 99, 3f.), die sich insbesondere zum Lästern eignet und zum Lachen bringt (Zb 298, 12; 780, 24ff.). Er kommt dabei auf Mylendonk zu sprechen: " Von der mediceischen Venus unterscheidet sie sich dadurch, daß sie dort, wo sich bei der Göttin der Busen (sc. der Vorderteil) befindet, ein Kreuz zu tragen pflegt ... >> << Ha, ha, ausgezeichnet! << lachte Hans Castorp" (Zb 95, 26 - 30). Mylendonk wird als "Petrefakt", also als bildhauerisches Werk bezeichnet (Zb 96, 7). Auch der Einfall mit Mylendonks Lieblingswort "Menschenskind" könnte von dem Romantitel "O Mensch" Bahrs angeregt sein. Der Stoßseufzer wird oft innerhalb des Romans verwendet (OM 1. Kp., 7, 1; 63, 24; 4. Kp., 197, 19; 5. Kp., 300, 9; 6. Kp., 300, 21; 301, 8.13; 310, 21; 316, 23).
Der Nußmensch braucht keinen Schlosser zur Reparatur. "No, darf ichs denn nicht?" fragte der junge Mensch. "Jüdl nicht so!" sagte Höfelind. "Ich spreche alle Sprachen", sagte der Knabe, lachend. Und nachdenklich fügte er dann noch hinzu: "Und warum denn nicht? Jüdln ist auch ganz schön " (OM 2. Kp., 95, 24 - 28). Auch im "Zauberberg" lassen sich Beispiele für das "Jüdln" (Jiiddisch) finden: etwa Chauchats "mähnschlich" (Zb 843, 6; 844, 1; 845, 4; 879, 17: "Mähnschlichkeit"; 921, 4f.).
Fräulein Annalis fordert ihren Bruder auf: "Dann geh aber jetzt schon endlich und leg dich arbeiten!" (OM 5. Kp., 244, 7f.) : Eine Vorstufe des schönen Wortes "Liegedienst" im "Zauberberg" (Zb 382, 8; 405, 19).
Anmerkungen:
1. Thomas Manns Der Zauberberg, Bd. 5/1 (Textband) - M. Neumann - der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. Hervorhebungen durch Fettdruck vom Autor. Abk.: Zb. 2. Hermann Bahr, O Mensch, Fischer Verlag, Berlin 1910. Abk.: OM, Kapitel, Seite, Zeile. 3. Weitere Stellen zu "Klee" und "Kleefeld": OM 1. Kp., 25, 3; 2. Kp., 65, 8.21; 4. Kp., 66, 8; 69, 4; 74, 18; 5. Kp., 79, 7.12; 91, 17; 98, 6; 6. Kp., 100, 12; 8. Kp., 155, 27; 10. Kp., 184, 7. 4. "Luder": 12. Kp., 211, 11; 213, 22f.; 14. Kp., 264, 8; 16. Kp., 295, 4.7.18.20.