Spuren im "Zauberberg": Edward Bulwer-Lytton, The Coming Race (1871)
Ähnlichkeit der Gesamtkonzeption
Der Handlungsverlauf des Romans von Bulwer-Lytton findet sich in Thomas Manns "Zauberberg" in veränderter Figurenkonstellation wieder (1): Ein wohlhabender junger Mann, der noch nicht im Berufsleben steht, besucht einen Freund, einen Ingenieur, der in einem Bergwerk arbeitet. Er verlängert die Zeit seines Besuches. Bei einer gemeinsamen Exkursion ins Innere des Berges stirbt der Ingenieur. Der Besucher bleibt jahrelang in einer geschlossenen Gesellschaft. Eine Frau verliebt sich ohne Gegenliebe in ihn. Sie bringt ihn nach oben zurück zu seinem Volk und rettet ihn so vor dem Tode (CR 29, 155, 10f.; KG 29, 180, 27f.).
Die Parallelen in Thomas Manns Roman sind unübersehbar und zeigen sich auch im Gegensatz: Der Ingenieur Castorp besucht seinen Vetter auf dem Berghof. Der Vetter stirbt. Castorp bleibt, weil er sich (einseitig) in Chauchat verliebt hat. Sie verlässt den Berghof mehrmals und ist dann endgültig weg. Castorp bleibt und wartet auf sie. Er zieht vom Berghof in den Krieg und (mit hoher Wahrscheinlickeit) in den Tod.
Den Ort des Geschehens beschreibt Bulwer-Lytton zwar detailliert mit Landschaftsschilderung, aber ohne geographische Bestimmtheit. Der Schauplatz des "Zauberbergs" ist dagegen mit Davos klar lokalisiert. Bei Bulwer-Lytton liegt der Schwerpunkt im Berg, bei Thomas Mann auf dem Berg. (2)
Das Konzept der Zweiteilung oben - unten führt in beiden Romanen zu Dialogen und Reflexionen, die die jeweiligen sozialen und politischen Verhältnisse miteinander vergleichen.
Der "Brotsack" Castorp will sich nicht überanstrengen, warum auch (Zb 53, 14 - 54, 19; 56, 15ff.). Die doppelte Begründung für die Arbeitsunlust des Protagonisten im "Zauberberg" (Anlage / Umfeld) lässt sich schon bei Bulwer-Lytton finden:
"The Ana of the community are, on the whole, an indolent set of beings after the active age of childhood. Whether by temperament or philosophy, they rank repose among the chief blessings of life. Indeed, when you take away from a human being the incentives to Action which are found in cupidity or ambition, it seems to me no wonder that he rests quiet". (CR 15, 65, 21 - 26) / "Die Ana der Gemeinde sind, nach den unternehmenslustigen Jahren ihrer Kindheit, im ganzen ein phlegmatisches Völkchen. Sei es nun eine Folge ihres Temperaments oder Philosophierens, sie rechnen jedenfalls die Ruhe unter die Hauptsegnungen des Daseins. Freilich, nimmt man dem Menschen den Ansporn zum Handeln, den Begierde und Ehrgeiz darstellen, wundert es mich nicht, wenn er untätig bleibt" (KG 15, 73, 22 - 29). (3) "amongst us no stimulus to painstaking labour, whether in desire of fame or in pressure of want" (CR 17, 89, 20 - 22) / "Der Ansporn zu saurer Arbeit fehlt - heiße er nun Ruhm oder Armut" (KG 17, 102, 24f.).
"The Coming Race" soll der erste "science-fiction" - Roman sein (4). Auf dem "realen" Hintergrund des "Zauberbergs" finden sich fiktionale Elemente:
"skimming through the opening" (CR 5, 20, 18; auch 27, 147, 2f.) / Der Knabe Tae "schwebte durch die Öffnung ein" (KG 5, 21, 9f.; auch 27, 174, 3). Krokowski kommt herangeflogen auf den Balkon (Zb 290, 25ff.).
Zahlreiche Automaten sind zuständig für allerlei Dienste bei Bulwer-Lytton. (5) Einem Automaten ähnelt vom Guten Russentisch "ein Herr mit konkavem Brustkasten und glotzendenAugäpfeln" (Zbb 130, 17).
Fräulein Levi erinnert Castorp beim Vortrage Krokowskis an eine Wachsfigur mit einemmechanischen Triebwerk im Busen (Zb 192, 11 - 18; 991, 24ff.).
"carried in its right a slender staff of bright metal like polished steel" (CR 4, 15, 24f.). Dem Protagonisten bei Bulwer-Lytton kommt eine Gestalt entgegen, die einen "schlanken, glänzendenMetallstab wie aus poliertem Stahl" in der rechten Hand hält (KG 4, 15, 26ff.). Frau Iltis hält im Träume Castorps ein "Sterilett" (auch Zb 638, 30) in der Hand. Es ist ein "Sicherheits-Rasierapparat", der sich in kleinerem Maßstab mit Schutz und Wirkung eines Vyrilstabes assoziieren lässt (Zb 33, 14 - 17).
Namen
Eine "ungewöhnlich zugkräftige Maschine" (Zb 11, 21f.), eine "schwer keuchende(n) Lokomotive" (Zb 12, 8f.) bringt Castorp von Landquart nach Davos-Platz. Eine solche Lokomotive der rhätischen Bahn soll damals "Krokodil (Croco)" genannt worden sein. (6) Dementsprechend hat Castorp einen "krokodilsledernen Handkoffer bei sich (Zb 11, 28). Es könnten dies Hinweise sein, dass der bald erscheinende Name "Krokowski" (Zb 20, 26) von "Krokodil" abzuleiten ist. (7) Der zweite Bestandteil des Namens ist nichts Ungewöhnliches - (o)wski findet sich in zahlreichen Namen (z.B. Lewandowski).
Bei Bulwer-Lytton nun wird nach dem Absturz die Leiche des Ingenieurs von einem "monströsen Reptil, das an ein Krokodil oder einen Alligator erinnerte", in eine Höhle geschleppt und verschlungen. (8) Sollte der Name "Krokowski" im "Zauberberg" auch auf dieses Krokodil zurückgehen? Dafür gibt es Anhaltspunkte:
1. Krokowski ist nicht der einzige Name, der sich möglicherweise auf Bulwer-Lytton zurückführen lässt. Der Protagonist wandert nach dem schrecklichen Ereignis mit dem Krokodil auf einer Straße, die einem "mächtigen Alpenpaß" glich (CR 3, 13, 4; KG 3, 13, 5). Die Landschaft wird beschrieben. Er sieht Seen und Bäche, "that shone like pools aof Naphtha" (CR 3, 13, 12f.) / die "wie Naphthateiche glänzten" (KG 3, 13, 15f.): der Name "Naphta" des "Zauberbergs"? (9)
2. Krokowski sitzt am "Kamin" (Zb 30,6). Kamin ist auch eine bergsteigerische Bezeichnung. Die Freunde seilen sich am Felsen in die Tiefe ab (CR 2, 12, 2 - 5; KG 2, 11, 28ff.).
3. Krokowski wird mit dem Gedanken an "Flucht" verbunden: Im Traume flieht Castorp vor Krokowski (Zb 33, 3 - 20) - wie der Protagonist in Bulwer-Lytton vor dem Krokodil. Castorp kennt Krokowski zunächst nur aus einer "flüchtigen" Begegnung (Zb 99, 33).
4. Das Krokodil wird bei Bulwer-Lytton auch als "Alligator" bezeichnet (CR 2, 12, 24). Die Bezeichnung "Fessler" (= Alligator) trifft auch auf Krokowski zu: Patienten werden auf dem Berghof selten entlassen. Dazu passt die Begrüßung Castorps durch Krokowski in einer Weise, die andeuten wolle, dass "Aug in Auge mit ihm jede Befangenheit überflüssig" sei (Zb 30, 14f.).
5. Die Zweiteilung der ärztlichen Behandlung "in körperlicher" und in "psychischer Hinsicht", die Krokowski anspricht (Zb 31, 23f.), spiegelt sich im Wortpaar "Zergliederung -Seelenzergliederung" (Zb 20, 28ff..; 21, 32; 32, 20f.; 140, 30; 555 3 ). Die körperliche Zergliederung durch das Krokodil, auf die das Hervorheben der Zähne Krokowskis hinweist (Zb 30, 31), wird ergänzt durch die jetzt angebotene psychische Behandlung des Ingenieurs durch Krokowski. Die schon früher geäußerte Vermutung über die Entstehung des Vornamens "Edhin" bestätigt sich hier: "Edhin" ist (hebräisch) rückwärts zu lesen und bedeutet "nice". (10) Das englische Wort weist auf die Beziehung zum englischsprachigen Autor Bulwer-Lytton hin, die Lesart des Wortes darauf, dass Krokowski Jude ist. Edhin Krokowski ist dann "ein nettes, hübsches, feines Krokodil", das die Seele zergliedert, nachdem er den Patienten in sein dämmriges "analytisches Kabinett" gelockt hat (Zb 205, 13f.; vgl. CR 2, 12, 21: "dark fissure" / "finstere Felsspalte": KG 2, 12, 16f.).
6. Als Krokowski den Beruf Castorps (Ingenieur) erfährt, büßt er an Lächeln ein. Warum? Will uns Thomas Mann an den vom Krokodil abgeschleppten Ingenieur in "The Coming Race" denken lassen? Diese Erklärung ist faszinierend, weil dann der fiktional erzählende Thomas Mann in seiner fiktionalen Figur Dr. Krokowski eine fiktionale Welt aus Bulwer-Lyttons Roman mitlaufen lässt, die nur ein fiktionaler Leser versteht, der diesen Roman gelesen hat. (11)
7. Die Ortsangabe Danzig in Zusammenhang mit Krokowski (Zb 30, 28) könnte ein Hinweis sein auf Heinrich Rathke (1793 - 1860), einen führenden Zoologen seiner Zeit . (12)