Spuren im "Zauberberg": Hermann Bahr, Die Rahl (1908)
Der Handlungsaufbau des Romans "Die Rahl" strukturiert den "Zauberberg" über eine weite Strecke. Folgende Sequenz ist zu erkennen (1):
1. Ein junger Mann verliebt sich in eine ältere Frau.
Der Gymnasiast Franz Heitlinger verliebt sich in die berühmte Schauspielerin Bettina Rahl, die ungefähr 40 Jahre alt ist (Rahl 15. Kp., 282, 11). Castorp wird 24, als er auf den Berghof kommt (Zb 132, 16). Dort verliebt er sich (Zb 349, 1f.) in die etwas ältere und erfahrene Clawdia Chauchat (wie Castorp vermutet: Zb 922, 19ff.). Ihr Alter wird am Anfang des Romans auf 28 Jahre geschätzt (Zb 316, 9ff.).
2. Attitüde von Verliebten
Franz passt die Rahl öfters an einer Stelle in der Vorstadt ab, wenn sie mit der Kutsche vorbeikommt (Rahl 6. Kp., 116,15f.), bei Castorp ist es die Treppe, auf der Chauchat kommen muss (Zb 221, 21 - 223, 6). (2)
3. Nebenbuhler
Die Rahl hat schon einen Verehrer, genannt "der Franzose der Rahl" (Rahl 5. Kp., 72, 14; 79, 27; 11. Kp., 125, 17). Es ist ein Herr von Lerroy, der "Sohn des weltberühmten Kognakhauses Lerroy" (Rahl 5. Kp., 71, 26; "Kognac Lerroy": 11. Kp., 205, 9). Im "Zauberberg" ist es Mynheer Peeperkorn, der später als Reisebegleiter Chauchats auf dem Berghof erscheint. Peeperkorns Liebe zum "Korn", auch im Namen dokumentiert, könnte durch Lerroy angeregt sein. Lerroy inszeniert einen Selbstmordversuch. Die Rahl ist davon nicht sonderlich beeindruckt: " Er hat sich erfolglos erschossen?" (11. Kp., 201, 21), Franz dagegen sehr (11. Kp., 207, 16 - 208, 4). Peeperkorn begeht (schon todkrank) Selbstmord. (3)
4. Porträt Rahl / Chauchat
Höfelind porträtiert Rahl. Maler Höfelind wird mit den Möglichkeiten eines "Photographen" konfrontiert, der die Rahl besser treffen würde (Rahl 5. Kp.,87, 7ff.; 88, 1.23; 8. Kp., 130, 5; 10. Kp., 164, 12). Er hat den Eindruck, dass Rahl dort, wo das Gesicht sein soll, bloß eine Null hat und er ihre Stimme malen muss (Rahl 8. Kp.,132, 16 - 18.30; 5. Kp., 90, 27 - 91, 11). Bei der Arbeit trinkt Höfelind einen "sehr starken Kaffee" (166, 6) und raucht (166, 13). Das Porträt wird dem Ehemann Rahls gezeigt und gewürdigt (Gespräch Höfelind mit Graf: Rahl 10. Kp., 163, 5 - 168, 7).
Bahr ist hier Stichwortgeber für Thomas Mann:
1. Die Kombination Foto und Null-Gesicht führt zum Röntgenbild Chauchats "ohne Antlitz" (Zb 527, 33). Auf die Verbindung Malen und Röntgen wird bei Behrens ausdrücklich hingewiesen (Zb 325, 12 - 15). 2. Eine ausgiebige Erörterung über Zigarren zwischen Castorp und Behrens wird unmittelbar vor der Gemäldebesichtigung verortet (Zb 384f.). 3. Die detaillierte Beschreibung der Kaffeezubereitung durch Behrens (Zb 386, 31; 387, 24f.; 395, 19f.; 396ff.) lässt den "Kaffeepflanzer" und "Kaffeekönig" Peeperkorn (Zb 827, 1ff.; 829, 3) am Horizont erscheinen. 4. Das fertige Porträt wird dem Liebhaber Castorp (und Ziemßen) gezeigt und gewürdigt (Zb 386, 5 - 405, 22). 5. Die Gegenüberstellung Maler - Fotograf erklärt, warum Krokowski an einen Fotografen erinnert (Zb 30, 28.30: "ateliermäßiges Gepräge"): Behrens malt und Krokowski sieht wie ein Fotograf aus.(4)
5. Die Geliebte gewährt dem Liebhaber nur eine Nacht (Rahl 11. Kp., 213, 23 - 12. Kp., 215, 6).
Rahl nimmt Franz für eine Nacht in ihren Pavillon mit. Franz glaubt nun, "der Geliebte der Rahl" zu sein (Rahl 12. Kp., 216, 20; 231, 29; 232, 1f., 233, 2; 243, 27). Die Rahl will Franz aber nicht mehr sehen. Sie kann sich kaum an seinen Namen erinnern (Rahl 13. Kp., 260, 4 - 11). Castorp wird ebenso enttäuscht. Chauchat fährt weg (Zb 511, 28). Die Liebe ist nur einseitig. Insofern entspricht Castorps "Verhältnis" zu Chauchat dem "Verhältnis" Franz Heitlingers zur Rahl. Die Einmaligkeit wird zusätzlich durch das Datum des 29. Februars betont (Zb 920, 17 - 24; 921, 17f.; 922, 11f.). Bei der Schauspielerin Rahl kann man an eine "einmalige Aufführung" denken. (5)
In beiden Romanen wird die Kapiteleinteilung dazu benützt, um über die Schilderung delikater Einzelheiten hinweggehen zu können. Hermann Bahr verfährt dabei etwas großzügiger (Zb 5. / 6. Kapitel; Rahl 11. / 12. Kapitel).
6. Bleistift als Liebessymbol
Die (naheliegende) erotische Bedeutung eines Bleistifts wird schon bei Bahr hervorgehoben. Wie bei Thomas Mann findet die Szene in der Schule statt: " Er (sc. Franz Heitlinger) bückte sich auf sein Buch, hielt die Hand mit dem langen Bleistift vor und schloß die Augen zu, bis er das grüne Häuschen sah, mit dem winkenden weißen Schein im Fenster" (Rahl, 12. Kp., 222, 22 - 25). Nebenher werden Zettelbotschaften zwischen ihm und seinem Freund Adolf Beer gewechselt. Ausdeutungsfähig ist insbesondere das Attribut "lang" bei Bleistift:
1. Bleistiftgeschichte mit Pribislav Hippe (Zb 187, 7 - 188, 32): Castorp spitzt den Beistift etwas zu, was natürlich auf Kosten der Länge geht. Er bewahrt Bleistiftschnitzel seines Mitschülers " in einer inneren Schublade seines Pultes" auf (Zb 188, 17 - 22; 189, 2 - 7; 527, 29f.). Die Rahl honoriert zunächst die offensichtliche Verehrung mit einer weißen Rose, die Franz zuhause in seine Lade legt (Rahl 6. Kp., 119, 26 - 120, 21; 123, 7 - 124, 9). (6) 2. Chauchar gibt Castorp im Traum auf dem Schulhof "den rotgefärbten, nur noch halblangen in einem silbernen Crayon steckenden Stift" (Zb 140, 19f.). 3. Für das Schweinchenzeichnen bekommt Castorp nur noch einen "Stummel" von einem Bleistift, "ein schon ganz kurzes Ding" (Zb 503, 15 - 18). 4. Bleistift und Geliebte werden bei Bahr nach, bei Thomas Mann vor der "Liebesnacht" miteinander verknüpft.
Nun bleibt es natürlich dem Leser überlassen, wieweit er diese "erotische" Linie weiterziehen will. Länge ist das eine, Funktionalität das andere. Hippe "erläuterte den einfachen Mechanismus, während ihre beiden Köpfe sich darüberneigten " (Zb 188, 3f.). "Und indem ihre (sc. Chauchats und Castorps) Köpfe sich darüber neigten, zeigte sie ihm die landläufige Mechanik des Stiftes" (Zb 505, 30f.). Es fehlt nicht der Hinweis, der "Bleistift von damals, der erste, war handlich-rechtschaffener gewesen" (Zb 505, 14f.). als dieses "Galanteriesächelchen, zu ernsthafter Tätigkeit kaum zu gebrauchen" (Zb 505, 12ff.). Für Peeperkorn stürzt eine Welt zusammen wegen seiner alters- und krankheitsbedingten Impotenz: "Den Mann berauscht seine Begierde, das Weib verlangt und gewärtigt, von seiner Begierde berauscht zu werden. Daher unsere Verpflichtung zum Gefühl. Daher die entsetzliche Schande der Gefühllosigkeit, der Ohnmacht, das Weib zur Begierde zu wecken" (Zb 912, 19 - 23). "Versagt er (sc. der Mann) im Gefühl, so bricht Gottesschande herein, es ist die Niederlage von Gottes Manneskraft, eine kosmische Katastrophe, ein unausdenkbares Entsetzen - " (Zb 913, 16 - 19). Dazu passt, dass sich Peeperkorn mithilfe einer "mechanische(n) Kopie des Beißzeuges der Brillenschlange " (weiblich) umbringt (Zb 945, 15f.).
7. Die Rolle des Ehemanns
Rahl und Chauchat sind verheiratet. Der Ehemann Rahls hat Verständnis für die berufsbedingten Affären einer Schauspielerin (Rahl 14. Kp., 268, 30 - 269, 4). Himmelserscheinungen, die er mithilfe seines Fernrohrs "von Zeiß in Jena" betrachtet, interessieren den "Sterngucker" (Rahl 13. Kp., 250, 3) offenbar mehr, auch die Beschäftigung mit Dialekten (Rahl 10. Kp., 159, 23 - 28). Im "Zauberberg" bleibt der Ehemann mit dem französischen Namen (Zb 120, 3; 210, 19) als "Mann hinter dem Kaukasus" unsichtbar. Chauchats Mann gibt vermutlich entweder aus Stumpfsinn oder Intelligenz dem durch die Krankheit gerechtfertigten Freiheitsdrang seiner Frau nach (Zb 923, 3 - 12).
Die "Versetzung" von Chauchats Mann in den Kaukasus (Zb 919, 8) schafft nun die Möglichkeit für eine überraschende Wendung: Im "Zauberberg" tritt an die Stelle des Ehemanns Peeperkorn.