Spuren im "Zauberberg": Knut Hamsun, Das letzte Kapitel (1923) Vorbemerkung: Erstaunlich ist, dass sich Knut Hamsun und Thomas Mann nicht ins Gehege kommen, obwohl sie jahrelang parallel an einem "Sanatoriumsroman" arbeiten. Das geht nicht ohne "Hörensagen" voneinander und Rücksichtnahme aufeinander. Eine Reihe von Elementen ist selbstverständlich vorgegeben, gleichgültig, ob es sich um das fiktive Torahus-Sanatorium oder um den realen Berghof in Davos handelt. Da gehören die Belegschaft dazu (Ärzte, Patienten, Personal), aber auch Ansprüche an die Lage des Sanatoriums (gesunde Luft, Ruhe, schöne Umgebung), Regelungen des Tagesablaufs, Therapie und Freizeitaktivitäten. Hier wird man nicht von Abhängigkeit reden können, sondern von Ähnlichkeit, weil eben dieselben Elemente aus der Vielzahl der sachlich gebotenen Möglichkeiten im Roman Hamsuns und Manns aufgenommen und mehr oder weniger betont werden. Anders sieht es aus, wenn Außergewöhnliches in beiden Romanen thematisiert wird. So will sich etwa ein Kurgast umbringen. Auch hier ist der Leser überrascht, in welcher Meisterschaft dasselbe Thema verschieden von beiden Schriftstellern entfaltet wird, um ja nicht den Anschein zu erwecken, in fremdem Revier zu wildern. Subtile Anspielungen dürfen freilich nicht übersehen werden. Eine ironische Abgrenzung dürfen wir schon darin sehen, dass der Sohn des Hofrates Behrens Knut heißt (Zb 434, 26), der mit Kameraden zu Besuch ins Sanatorium kommt. Castorp "mied diese jungen Leute und wich ihnen mit Joachim aus, wenn es nötig war, unlustig, ihnen zu begegnen. Den Zugehörigen Derer hier oben trennte eine Welt von diesen Sängern, Wanderern und Stöckeschwingern, er wollte von ihnen nichts hören und wissen. Außerdem schienen die meisten von ihnen aus dem Norden zu stammen ..." (Zb 435, 7 - 12).
I. Bei der Lektüre des "Zauberbergs" mag dem Leser ein eigenartiger "Brandgeruch" in die Nase steigen. (1) Viele Stellen im Roman kreisen um "Brand" und "Brennen", um "Hitze" und "Feuer". Die bevorzugten Farben sind "gelb" und "rot". (2) Das "Messen der Wärme" (Temperatur, z.B. Zb 65, 25) mithilfe des "Wärmemessers" (Thermometer) durchzieht den Roman. Selbst die "Tous-les-deux" sind noch "glutäugig" (Zb 65, 25). Bei der Zigarre ist der "Brand" präsent und bei der Namensgebung, nicht nur bei der Randfigur Wurmbrand (Zb 117, 8.14; 359, 24), sondern auch bei Ellen Brand (Zb 993, 4). Fiebrige Hitze gehört zum Krankheitsbild. DerLeser ist also gut vorbereitet, sollte der Roman mit einer Brandkatastrophe abschließen. Diese Möglichkeit wird im "Zauberberg" angedeutet: " Um ein Haar hätte er (sc. James Tienappel) Feuersbrunst gestiftet, da er zweimal, das glimmende Räucherwerk zwischen den Lippen, in Schlaf verfiel" (Zb 652, 13ff.). Die "Brandröte" (Zb 1080, 23) des beginnenden 1. Weltkrieges war das bessere Ende des Romans für Thomas Mann. Ein Abbrennen des bekannten Sanatoriums in Davos wäre auch kaum glaubhaft gewesen und ein Zimmerbrand zu unspektakulär. Mit einem Gebäudebrand endet der Sanatoriumsroman "Das letzte Kapitel". (3) Im Schlussteil dieses Romans vernichtet ein furioses Feuer das Torahus-Sanatorium, einige Insassen sterben (LK 344 - 347). Eine versteckte "Vorbereitung" auf diese Katastrophe gibt es: Das künftige elektrische Licht im Sanatorium wird dafür sorgen, dass es "ein Lichtmeer, nein, eine Feuersbrunst" gibt (LK 206, 38). Plakate wurden aufgehängt, auf denen man nach Meinung des Selbstmörders bittet, "vorsichtig mit dem Feuer umzugehen und Lampen und Lichter auszulöschen, um die Halbtoten nicht zu verbrennen" (LK 209, 20ff.). Die "Feuerversicherungsprämie" muss bei der Bank bezahlt sein (LK 227, 5 - 8). Die "Brandtaxe" ist hoch (LK 320, 14f.). Das Wasserwerk wäre fast fertig geworden (LK 347, 34f.). II.Aber es gibt bei Hamsun noch eine zweite Motivlinie, die mit Feuer zu tun hat: Bauer Daniel, Eigentümer der Toharus-Sennhütte, will das Haus seiner früheren Geliebten Helena anzünden und sie verbrennen (LK 11, 26 - 12, 31; 177, 12 - 18; 179, 12 - 16; 303, 28ff.; 309, 21f.).Auch dieses Motiv verwertet Thomas Mann "mit gebotener Zurückhaltung": Auf das Umfeld "Brennen" wird der Leser bei der Schilderung des Zimmers, in dem die Séance mit Ellen Brand stattfinset, hingeführt: Hingewiesenwird auf den "brennendenKamin" (Zb 1018, 28f.), das "Rotlicht" (Zb 1026, 27), der Gaskamin "strahlte Hitze" (Zb 1027, 10f.), das "Rotdunkel" (Zb 1029, 22; 1030, 22; 1033, 19). Hamsuns Verbindung Helena mit Brand könnte die Anregung für den Namen Ellen Brand im "Zauberberg" gewesen sein. Aus einer Norwegerin wird eine Dänin (Zb 993, 10). III. Der sog. Selbstmörder Leonhard Magnus ist eine der Hauptfiguren des Romans von Hamsun . Erst später wird im Roman deutlich, dass er eine Frau und eine kleine Tochter hat (LK 327, 13.18). Seine Frau wollte sich von ihm scheiden lassen (LK 331, 9). Es sind also keine körperlichen Krankheitsprobleme (LK 143, 13f.), sondern Scheidungsprobleme, die ihn nach Torahus mit Selbstmordgedanken führen. Ganz anders bei Albin im "Zauberberg": Auch diese Romanfigur nimmt einen breiten Raum ein. Albin bekommt nicht nur einen eigenen Abschnitt zugewiesen (Zb 121, 22 - 125, 26), sondern ist überall dabei (s. Index "Abin"). Er bezeichnet sich als unheilbar krank (Zb 124, 21ff.; 363, 8) und ist der Ansicht, "daß es unnütz ist, dem Schicksal in die Speichen zu fallen. Ich bin im dritten Jahr hier ... ich habe es satt und spiele nicht mehr mit" (Zb 124, 19f.). Jetzt (erst) stellen sich Selbstmordgedanken ein. Beide tragen ihre Selbstmordgedanken demonstrativ vor sich her: Albin spricht von Selbstmord in einer Szene, Leonhard Magnus wird mt seiner Absicht identifiziert und ist "Selbstmörder". Vorbereitungshandlungen zum Selbstmord sind allerdings nicht zielführend: Vor Fräulein d´ Espard spricht der Selbstmörder verdeckt von sich (LK 144, 22 - 145, 35). In seinem Fallbeispiel kann die Pistole "längst gekauft sein, kann geölt, geputzt und geladen in seinem Gewahrsam ruhen" (LK 145, 21f.). Albin zeigt dem Publikum als mögliche Tatwaffe ein Messer (Zb 121, 29) und dann einen Revolver (Zb 122, 17), der "blank" und "scharf geladen" ist (Zb 123, 3ff.). (4) Später wird der Selbstmörder mit einem Strick einen passenden Baum suchen, aber er führt die Tat nicht aus (LK 348, 7 - 349, 34). Diese Variante erzählt Joachim Ziemßen: "Zwei Monate bevor ich kam hat sich ein Student, der schon lange hier war, nach einer Generaluntersuchung im Walde drüben aufgehängt" (Zb 127, 5ff.). IV. Widersprüchliches Verhalten gegen die erklärte Absicht Bei Selbstmordankündigungen erwartet der Leser baldigen Vollzug. Stattdessen lassen es sich die Selbstmordaspiranten gutgehen.Der Selbstmörder freut sich seines Daseins: ""Oh, der Selbstmörder zeigte, daß er ein junger Mann war, der sich seines Daseins freute", (LK 72, 6f.) und kauft, was er braucht (LK 142, 41ff.). Er beklagt sich dauernd über das Essen: " Wir bekommen hier einen elenden Fraß, nur Konserven" (LK 73, 34f.; 267, 23). Den Tod eines Mädchens schreibt er dem Essen zu: " Sie hat sicher irgendeine Schweinerei zu essen bekommen, die sie nicht verdauen konnte" (LK 288, 36f.; 275, 1f.; auch 335, 24ff.). Er möchte, dass der Ochse von Daniel gekauft wird (LK 73, 38 - 43; 275, 2). "Sie wollen ja doch sterben, nicht wahr? Fragte der Inspektor ihn lachend, warum machen Sie sich da soviel aus dem Essen. - Der Ochse wurde gekauft" (Lk 76, 15ff.). Seine Abende verbringt er mit Kartenspiel (LK 275, 9f.). Bei einer Wunde an der Hand zeigt er sich wehleidig und glaubt von seinem "Freund" Moß angesteckt worden zu sein (LK 275, 33ff.; 267, 19; 276, 16 - 23; "zugeheilt": LK 322, 40).Moß hält dem Selbstmörder die Nutzlosigkeit seiner Existenz vor: " Sie werden jeden Tag hier herumlaufen und zeigen, daß Sie nicht lebensfähig sind. Sie halten es für wichtig, daß Sie irgendwo sitzen, blinzeln, rauchen und weder Böses noch Gutes tun, aber, lieber Gott, nein, Sie schaffen damit nichts Notwendiges, keine Verkündigung, keinen allgemeinen Wert, tägliches Brot für einen Spatzen oder ein bißchen Märchen für ein Kind - " (LK 156, 2 - 8). Warum bringt sich der Selbstmörder nicht um? Gegenüber Fräulein d`Espard gibt der Selbstmörder den Grund an:" Warum er (sc. der Selbstmörder) sie (sc. die Pistole) nicht gebraucht? Sehen Sie, Fräulein d´Espard, der Mann kann Mensch sein, wir sind alle Menschen, der Mann kann sogar noch irgendwie im Leben wurzeln, er kann auch verliebt sein, trotz allem, und die Angst, daß das Kind umkommt, kann ihn zerfleischt haben, muß er danicht leben, um es zu retten? Da irrt er umher ..." (LK 145, 23 - 28). Seine Frau, die ihn im Sanatorium besucht, kommt bekanntlich im Feuer um. Der Gedanke an seine kleine Tochter Leonora hält ihn vom Selbstmord ab (LK 349, 33): "Er geht durch den Wald, er kommt an den Strick, der leer an seinem Ast baumelt, geht vorbei, geht und geht und verschwindet. Fräulein d´Espard ist ihm, solange sie konnte, mit dem Auge gefolgt" (LK 352,7 - 11). Dies erinnert stark an den Abgang Castorps: "Und so ... kommt er uns aus den Augen" (Zb 1084, 31f.). Albin freut sich seiner "Ungebundenheit" (Zb 124, 23 - 30; 191, 25ff.) und nimmt voll in hervorgehobener Rolle am gesellschaftlichen und spiritistischem Leben im Sanatorium teil. Er spielt Bridge (Zb 129, 22f.; 130, 6 - 9), bietet Schokolade an (Zb 124, 30 - 125, 2; 170, 16 - 18), flirtet mit Hermine Kleefeld (Zb 171, 33f.), raucht "mit goldenem Mundstück" Zigaretten (Zb 170, 19), verleiht ein anstößiges Buch (Zb 413, 17 - 24). (5) Am Schluss des Romans nicht mehr genannt, befindet Albin sich wohl im "Ameisenhaufen", der zu Beginn des 1. Weltkriegs abreist (Zb 1079, 24).
V. Die Bedeutung der Zahl "Sieben" im "Zauberberg" ist bekannt. So gehört das Zimmer Nr. 7 Clawdia Chauchat. Was passiert mit dem Zimmer Nr. 7 bei Hamsun? 1. Eine Dame wird gebeten, das Zimmer Nr. 7 zu wechseln (LK 70, 32 - 35; weiteres Schicksal: LK 88, 19 - 25). 2. Das Zimmer Nr. 7 wird umbenannt in Zimmer Nr. 107: "Nummer 107! O dieser Direktor Rupprecht, nun hatte er allen Nummern im Sanatorium eine hundert zugelegt, so daß es sich auf den Türen großartig ausnahm" (LK 322, 4ff.). Direktor Rupprecht wird hier erwähnt, der sich selbst umbenenennen ließ und früher Robertson hieß (LK 225, 8 - 11). Die Umbenennung des Zimmers wird dadurch unterstrichen. 3. Bertelsen, der Zimmer Nr. 107 zu bewohnen pflegte (LK 335, 4f.), kommentiert die Namensänderung Rupprechts: " Ein Narr! Sollte ich darum nachsuchen, mich Bertillon nennen zu dürfen? Jamais!" (LK 125, 10f.). Ein Hinweis auf die Dame mit dem französischen Namen Chauchat? 4. Zimmer Nr. 107 (7) ist später Ausgangspunkt des Brandes (LK 344, 2 - 35). Es drängt sich der Eindruck auf, dass Hamsun das Zimmer Nr. 7 für Mann freigehalten hat. Weitere Verwendung der Zahl 7 bei Hamsun: Daniel bekommt sieben Jahre "Strafarbeit" für das Erschießen seines Nebenbuhlers Fleming (LK 318, 7). Entsprechend muss d´Espard sieben Jahre auf ihn warten (LK 351, 29 - 32). Nach ihrem Schlittenunfall mit Gesichtsverletzungen überlegt Fräulein d´Espard, wie sie in sieben Jahren aussehen wird (LK 322, 11 - 15). VI. Fehldiagnose
Der Freund des Selbstmörders, Antonius Moß, verlässt das Sanatorium und "fährt zu seinem Lebendigbegrabenwerden. Kein Wunder, daß er sich so lange gesträubt hatte, Torahus und das Leben zu verlassen ..." (Abschiedsszene: LK 159, 30 - 160, 6). Er kommt in ein öffentliches Heim (LK 158, 18 - 26). Bald geht es Moß besser (LK 275, 41f.). Im Sanatorium wurde Lepra diagnostiziert, aber er hatte Bartflechte (LK 239, 27f.; 240, 37f.; 276, 6f.23f.; 338, 9 - 339, 10). Im "Zauberberg" erzählt Settembrini von Fehldiagnosen bei einer Deutschrussin (Zb 297, 16 - 298, 8) und einem Nuismatiker (Zb 298, 28 - 34). Bekanntlich ist auch Castorp "Opfer" einer Fehldiagnose (Zb 949, 1 - 12).