1. Frau Stöhr bezeichnet Dr. Krokowski als "fomulus" (Zb 28, 33f.). Unsere Auffassung, dass "fomulus" als "fonds-mulus" zu lesen ist (Beitrag 44), findet über den Kern von Dr. Krokowskis Namen "Krokodil" (Beitrag 92, Teil 1) eine Bestätigung: In einer Erzählung Dostojewskis wird das Krokodil, das den Hofrat (S. 93) Iwan Matwejitsch verschlingt, unter den Gesichtspunkt gestellt: "Das ökonomische Prinzip hat Vorrang" (S. 49, 61, 92). Es wird deshalb nicht "aufgeschlitzt" und der Hofrat bleibt lebend und sprechend im Krokodil (Fjodor M. Dostojewski, "Das Krokodil". Erzählungen, S. 35 - 111. Aus dem Russischen übersetzt von Christiane Pöhlmann. Nachwort von Eckhard Henscheid. Manesse Verlag 2015).
2. "Als Ablenkung vom Sexuellen genießt die Mathematik den größten Ruf; schon J.J. Rousseau hatte sich von einer Dame, die mit ihm unzufrieden war, raten lassen müssen: Lascia le donne e studia le matematiche" (zitiert in: S. Freud, Der Wahn und die Träume in W. Jensens "Gradiva" (1907), Fischer Taschenbuch Verlag 2009 ,4. Aufl., S. 73f.). Auch für Hofrat Behrens ist die Beschäftigung mit der Mathematik "das beste Mittel gegen die Kupiditas. Staatsanwalt Paravant, der stark angefochten war, hat sich drauf geworfen, er hat es jetzt mit der Quadratur des Kreises und spürt große Erleichterung" (Zb 628, 11-16; dazu auch Zb 827, 21ff.; 954, 16-956,26). Vgl. auch Kommentar, a.a.O., S. 290, Anm. zu S. 628, 13.
3. Zur Erklärung des Namens Clawdia Chauchat (Beitrag 4) ein weiterer Vorschlag: An Fastnacht bezeichnet Settembrini Chauchat als "Lilith" (Zb 496, 30-497, 15). Wo bleibt Adams zweite Frau Eva? Sie könnte sich im Namen Chauchat verstecken. Unser Interesse gilt hier der Silbe "Chau". Bei Evas hebräischem Namen "Chawwah" (1.Mose 3, 20; 4, 1) kann man den Vokalbuchstaben Waw wie "u" lesen. Es ergibt sich dann ein "au" wie bei dem hebräischen Namen "Esaw" und "Esau" (1. Mose 25, 26 u.a.). Gestützt wird diese Namenserklärung dadurch, dass die "Eva" Chauchat mit "Marusja" = Maria ein schon traditionell vorgegebenes Gegensatzpaar bildet.Die Komponenten des Namens Clawdia Chauchat sind also: Claw-dia-Chau-chat oder catwalk (Laufsteg) - dia (göttlich, Göttin) - Chau (Eva), Übersetzung: Eva, die Göttin des Laufstegs.Der jüdische Hintergrund zeigt sich auch im "Jargon" (Zb 648, 29), in ihrer Aussprache des Wortes "Menschlichkeit" und "menschlich" : "Mänschlichkeit" (Zb 879, 17), Mähnschlichkeit" (Zb 879, 17), "mänschlich" (Zb 843, 6), "mähnschlich" (Zb 903, 16) und weitere Stellen.
4. Ein ganz anderer Ansatz für die Namenserklärung Clawdia Chauchat ergibt sich aus der Tatsache, dass das gängige französische Maschinengewehr im 1. Weltkrieg nach seinem Erfinder "Chauchat" hieß (Wikipedia s.v.). Kannte Thomas Mann schon den Begriff "Flintenweib"? Dann ergeben sich interessante Assoziationen: Auf die Aufforderung Settembrinis sofort heimzufahren, antwortet Castorp, er wolle nicht gleich "die Flinte ins Korn werfen " (Zb 134, 3; 376, 5). Bedenkt man, dass ausdrücklich festgestellt wird, dass Clawdias Mann "einen französischen Namen" hat (Zb 210, 19) und der "Brotsack" (Castorp) durchaus als militärisches Utensil (Tornister) betrachtet werden kann, so werden an bevorzugter Stelle zwei zeitgemäße militärische Begriffe verwendet. (Zum militärischen Einsatz des "Brotsacks" in der Schweiz vgl. etwa Max Frisch, Blätter aus dem Brotsack, 1940). Bei der Untersuchung des Namens von Schwester Berta/Alfreda Schildknecht (Beitrag 69) war uns zudem schon die deutsche Superwaffe des 1. Weltkriegs, die "Dicke Bertha", in den Blick gekommen. Auch der Name Naphta weist auf ein kriegswichtiges Gut hin (Naphtha=Erdöl). Soldatische Präsenz zeigt sich im Protagonisten Joachim Ziemßen. Auf die Kriegsepisode sei hingewiesen. Die in der jüdischen Tradition und im "Zauberberg" bekannte Zahl "Sieben" ermöglicht ebenfalls einen militärischen Aspekt: Sajin, der hebräische Buchstabe für die Zahl "Sieben", bedeutet als Wort "Waffe". Dazu Konstantin Schuchardt in der Wochenzeitschrift "Jüdische Allgemeine" Nr. 32 vom 11.8.16, Artikel "Sieben", mit Hinweis auf die Eroberung Jerichos (Josua 6).
5. Ammy Nölting (Zb 627, 4-27; 632, 16f.): Nölting ist der Name einer bedeutenden Kaufmannsfamilie in Lübeck (Lübecksche Geschichte, hrsg. von Antjekathrin Graßmann, Lübeck 2008, 4. Aufl., S. 602, 673, 677; Wikipedia s.v. "Christian Adolf Nölting" und das "Nöltingsche Haus").
6. Settembrini "hänselte Frau Stöhr und sprach dann einiges über den Tischlersohn und Menschheits-Rabbi, dessen Geburtstag man heute fingiere. Ob jener wirklich gelebt habe, sei ungewiß. Was aber damals geboren worden sei und seinen bis heute ununterbrochenen Siegeslauf begonnen habe, das sei die Idee des Wertes der Einzelseele, zusammen mit der der Gleichheit gewesen, - mit einem Wort die individualistische Demokratie" (Zb 438, 21-28; auch Zb 238, 20f.). Diese Weihnachtsattacke Settembrinis könnte inhaltlich auf Adolf von Harnack zurückgehen: "Aber erst durch Jesus Christus ist der Wert jeder einzelnen Menschenseele in die Erscheinung getreten, und das kann Niemand mehr ungeschehen machen. Man mag zu ihm selbst stehen, wie man will, die Anerkennung, daß er in der Geschichte die Menschheit auf diese Höhe gestellt hat, kann ihm Niemand versagen" (A.v.Harnack, Das Wesen des Christentums. Vorlesungen 1899/1900, hrsg. von Claus-Dieter Osthövener, 3. Aufl. 2012, Mohr Siebeck, S. 46, 20-24).
7. Schon beim ersten Gespräch mit Castorp weist Behrens darauf hin, dass "manche (sc. Damen) ganz malerisch" sind (Zb 74, 13f.). Fräulein Engelhart erzählt Castorp, dass Hofrat Behrens Chauchat porträtiert (Zb 317, 5-11). Ein Binnenverweis über 250 Seiten!
8. Marusja, so erklärt Joachim, geht auf Marie zurück (Zb 112, 22f.). Marusja (Marie) wird in Beziehung gesetzt zu Maria (Pietà) in Naphtas Wohnung: Diese ist "etwas innig Schreckhaftes" (Zb 592, 18f.). Einen "unbestimmten Schrecken" (Zb 112, 33f.) flößt Joachims Gesichtausdruck Castorp während des Gesprächs über Marusja ein. Joachims Mund verzerrt sich "auf ganz eigentümlich klägliche Weise" (Zb 112, 30f.; 177, 18), ein weiterer Hinweis auf die Pietà mit ihrem "jammernd schief geöffneten Munde" (Zb 592, 21). Marusjas Brust ist überdies "wurmstichig" (Zb 225, 26f.). Der "kindliche(r)" Blick (Zb 177, 11f.) und der "Schaukelstuhl" (Zb 803, 27) beim Gespräch Joachims mit Marusja zeigen, dass das Jesuskind im "Zauberberg" nicht vergessen wird. Über die Gottesmutter Maria wird nun erklärbar, warum Marusja ein Tüchlein in der Hand hält. In der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom ist eine Maria mit diesem Attribut zu sehen. Das Tüchlein wird "Mappula" ("Mappa") genannt und soll den königlichen Status der Gottesmutter ausdrücken. Ist dieses zeremonielle Tuch "normaler" Bestandteil von Marienikonen, so ist es nicht normal, wenn Marusja es immer bei einem Lachanfall benutzt (Zb 115, 32ff.). Sie ist als Kontrastfigur zur Pietà konzipiert. Theologische Deutungen bleiben dem Leser überlassen.
9. Zur Auseinandersetzung Wiedemann - Sonnenschein (Zb 1036, 32-1039, 5). "Denn es war da ein anderer Mann ..." (Zb 1038, 3): Diese Ausdrucksweise signalisiert die Verwendung biblischer Motive. Hinter Hirsch könnte der Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808-1888) stehen. Die Betonung der "Haare" (Samson) weist darauf hin (Zb 1038, 18.29.31; 1039, 1). Raphael heißt: Der Herr heilt, Ansatzpunkt für eine orthodoxe Meinung, dass (nur) der Herr hilft und medizinischer Beistand (Kur) sich erübrigt. Die Vornamen passen also in den Kontext. Zudem ist der Rabbiner Samson Raphael Hirsch in Hamburg geboren. Gerade er ist ein um den Frieden besorgter Mensch: In seinem Kommentar zum Chumasch bezeichnet er als Ziel der Tora, "Frieden und Harmonie auf Erden wiederherzustellen". Vgl. dazu auch den Appell Thomas Manns am Ende des "Zauberbergs".
10. Bekanntlich ist für den "Zauberberg" die Sieben (oder ein Vielfaches) eine besondere Zahl. In der Offenbarung des Johannes ist die Sieben ebenfalls reichlich vertreten: sieben Sendschreiben, sieben Geister, Buch mit sieben Siegeln, sieben Plagen, sieben Posaunen, sieben Schalen u.a. Soll mit dieser Zahl der "Zauberberg" zur "apokalyptischen" Literatur gehören? Weltkrieg im Sinne eines "jüngsten Gerichts", "von göttlicher Güte und Gerechtigkeit" (Zb 1079, 8f.)? Am Schlusse des Romans steht wie in der Offenbarung eine Vision (Zb 1085, 21ff.). Erwähnenswert auch, dass einer der ersten Sätze des "Zauberbergs" aus sieben Wörtern besteht: "Er fuhr auf Besuch für drei Wochen" (Zb 11, 5). Der erste Vers der Lutherbibel (und der Tora) besteht ebenfalls aus sieben Wörtern. Die Siebenzahl ist durchgängig in der Bibel: z.B. Schöpfung, Jakob - Rahel, fette - magere Kühe und Ähren, Bauzeit des Tempels, Löwengrube Daniels.