11. Warum wird die Tauftradition so ausführlich dargestellt? Auf dem Taufteller von 1650 finden sich auf der Rückseite die Namen der sieben Inhaber: "Der Name des Vaters war da, der des Großvaters selbst und der des Urgroßvaters, und dann verdoppelte, verdreifachte und vervierfachte sich die Vorsilbe >>Ur<< im Munde des Erklärers (sc. des Großvaters), und der Junge lauschte seitwärts geneigten Kopfes, mit nachdenklich oder auch gedankenlos-träumerisch sich festsehenden Augen und andächtig-schläfrigem Munde auf das Ur-Ur-Ur, - diesen dunklen Laut der Gruft und der Zeitverschüttung, welche dennoch zugleich einen fromm gewahrten Zusammenhang zwischen der Gegenwart, seinem eigenen Leben und dem tief Versunkenen ausdrückte und ganz eigentümlich auf ihn einwirkte: nämlich so, wie es sich auf seinem Gesicht ausdrückte" (Zb 38, 25-39, 3). Auffällig ist die mehrfache Nennung des Wortes "Ur" (auch Zb 235, 29). Natürlich versteht man das Wort zunächst im Sinne von "in grauer Vorzeit, einst". Aber es ist nicht nur ein allgemeiner Hinweis auf die Vergangenheit, sondern ein konkreter Hinweis auf biblische Geschichte: Ur in Mesopotamien ist die Heimat Abrahams. Ur liegt auf dem Gebiet der Chaldäer, an die Castorp "viel mit Sympathie" denkt (Zb 559, 21f.), sie sind "beinahe Juden" (Zb 561, 30). Abraham, dem Stammvater der Juden, gilt dann der "fromm gewahrte Zusammenhang", letztlich mit Hans Castorp, dessen Namen Thomas Mann in Lübeck findet (Hans Castorp, vgl. Kommentarband, a.a.O., S. 68) und dessen jüdische Umdeutungsmöglichkeit er erkannte. Im Roman ist Hans Castorp im Kern "Jakob Brotsack" (vgl. Beiträge 1 und 61, 1). Ein Vorfahre im Roman ließ sich taufen, ist also dann getaufter Jude und Stammvater der Castorps. Der "Zauberberg" gibt ein Datum an: 1650. Ab diesem Zeitpunkt wird aus der Familie "Brotsack" die Familie "Castorp". Die breite Ausgestaltung des Taufmotivs im "Zauberberg" findet hier ihre Begründung. Das Datum 1650 ist bewußt gewählt: Nach dem Dreißigjährigen Krieg war Hamburg ein Zentrum der Juden. Das Datum macht auch darauf aufmerksam, dass nach dem Dreißigjährigen Krieg rechtliche Benachteiligungen wegfielen und die "judenstämmige" Familie Castorp eine bürgerliche Karriere machen konnte, sogar bis zum Amt eines Ratsherrn (Senators). Das Judentum bleibt bei Hans Castorp erhalten, "nämlich so, wie es sich auf seinem Gesicht ausdrückte": "Er besaß einen "gut geschnittenen, irgendwie altertümlich geprägten Kopf" (Zb 50, 19f.). Man weiß nicht, ob er "ungebunden wie ein Jude" später eine radikale Politik betreibt (Zb 58, 30-59, 6).
12. Konsul Tienappel erfüllt die jüdischen Klischees: "Er war ein gewichtiger Mann, in beste englische Stoffe gekleidet, mit wasserblau vorquellenden Augen hinter der goldenen Brille, einer blühenden Nase, grauem Schifferbart und einem feurigen Brillanten an dem gedrungenen kleinen Finger seiner Linken" (Zb 49, 14-19). Für die Verwaltung von Hans Castorps Papieren stellt er dem Verwandten geldgierig zwei Prozent der Zinsen in Rechnung (Zb 49, 1-5). Auch die Namen seiner Söhne sind jüdischer Herkunft: Peter führt auf den Juden Petrus zurück, den Fischer (Marine!), und James ist "Jakob"(Zb 49, 19f.).
13. Ein Leser aus Lübeck muss sich fragen: Wieso kommt Hans Castorp im "Zauberberg" mit diesem stadtbekannten Namen nicht aus Lübeck, sondern aus Hamburg? Möglicherweise wollte Thomas Mann seine Vaterstadt nicht diskreditieren und mit seinem Protagonisten "Brotsack" eine Attacke gegen die "Pfeffersäcke" Hamburgs reiten.Vgl.auch "Weltkrämertum": Zb 50, 28.
14. Bier galt als Heilmittel bei Tuberkulosepatienten (Irene Krauß: "Heute back´ich, morgen brau´ich..." Zur Kulturgeschichte von Brot und Bier. Deutsches Brotmuseum Ulm 1955, Franz Spiegel Buch GmbH, Ulm, S. 123). Der Aufenthalt eines Bierbrauerehepaars in einem Lungensanatorium (Stellen im Index) liefert offensichtlich den Nachweis, dass Bier nicht allen hilft. Zur weiteren Erklärung des Namens Magnus über den Beitrag 35 hinaus der Hinweis: "Am 6. September, dem Tag des heiligen Magnus, soll nach alter Hopfenbauernregel die Hopfenernte beginnen" (Johannes Goldner, Wilfried Bahnmüller: "Bayerisches Bier". Pannonia-Verlag, 1983, S. 10). Hopfen wirkt "eiweißfällend" ("Deutschland Deine Biere", hrsg. von Uwe-Jens Schumann, Zabert Sandmann München 1993, S. 34). Nach Hildegard von Bingen soll Hopfen Melancholie erzeugen, die das Paar umgibt (Zb 642, 7).
15. Die Tuberkulose war als "Wiener Krankheit" bekannt (s. Elisabeth Dietrich-Daum: Die "Wiener Krankheit". Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich. Wien. Verlag für Geschichte und Politik 2007. Social- und wirtschaftshistorische Studien 32). Dieser "morbus Viennensis" lässt im Sanatorium auch Patienten und Patientinnen aus Wien erwarten: Frau Generalkonsul Wurmbrand ist aus Wien (Zb 117, 7f.). Ohne Ortsangabe wird Leila (hebr.: "Nacht") Gerngroß aufgeführt (Zb 455, 23). "Gerngroß" ist der Name eines bekannten Wiener Kaufhauses, das heute noch in der Mariahilfer Sraße existiert.