Natalie von Mallinckrodt ist "ein weiblicher Lazarus und Hiob, von Gott mit jederlei Bresthaftigkeit geschlagen" (Zb 473, 19ff.). Diese Stelle regt an, den "Zauberberg" vom biblischen Buch "Hiob" aus zu betrachten (1).Hier kommt zunächst Dr. Krokowski in den Blick, dessen Namenskern "Krokodil" ist (Beitrag 92, 1). Im Buch "Hiob" wird ein Kroikodil (Leviatan) beschrieben (Hiob 40, 25-41, 26).
Attribute des Krokodils können bei Dr. Krokowski nachgewiesen werden:
- Das biblische Krokodil ist mit Feuer und Rauch verbunden (Hiob 41, 11ff.): Dr. Krokowski sitzt am Kamin (Zb 30, 6).- Die furchtbaren Zähne des Krokodils werden betont (Hiob 41, 6-9): "Herzlich lächelnd" zeigt Dr. Krokowski seine Zähne (Zb 30, 30f.).- Das Krokodil "läßt hinter sich eine leuchtende Bahn; man denkt, die Flut sei Silberhaar" (Hiob 41, 24): Der Vollbart Dr. Krokowskis zeigt "bereits ein paar weiße Fäden" (Zb 30, 23f.). - Furchtlos sieht das Krokodil "allem ins Auge, was hoch ist" (Hiob 41, 25f.): Dr. Krokowski legt den Kopf schräg zurück, um Castorp und Ziemßen ins Gesicht zu sehen (Zb 30, 18f.). - Das Herz des biblischen Krokodils "ist so hart wie ein Stein und so fest wie der untere Mühlstein" (Hiob 41, 16). Zu denken ist dabei an Dr. Krokowskis Umgang mit Elly Brand. Interessant ist aber die Frage: Hat diese Stelle Oberschwester Adriatica von Mylendonk zum "Petrefakt" gemacht (Zb 96, 7), zum "Mühlenesel" (Beitrag 1)? Ihr "Granatkreuz" (Zb 254, 14) unterstreicht den Ausgangspunkt "Stein" der Assoziation und die religiöse Herkunft des Motivs. (2) Entgegen der Zuordnung von Mylendonk zu Behrens im Roman ergibt sich also entstehungsgeschichtlich eine Nähe Mylendonks über das "Krokodil" zu Dr. Krokowski. Es gibt auch noch weitere Vergleichspunkte: 1. "Es war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob. Der war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse" (Hiob 1, 1). Hiob verliert Besitz und Familie (Hiob 1, 15-18) und wird noch krank (Hiob 2, 7). Seine Frau bleibt ihm und versucht ihn von seiner Frömmigkeit abzubringen (Hiob 2, 9). Castorp ist "Doppelwaise" (Zb 444, 21f.; 168, 3). Besitz ist vorhanden trotz Liquidation der Firma Castorp und Sohn (Zb 48, 31f.; aber auch Zb 55, 25-30). Die Ärzte im Sanatorium machen ihn krank, die Geliebte Chauchat bringt ihn mit ihren Reizen ("Eva",vgl. Anregung 3) um ein bürgerliches Leben. Castorp ist zuhause "so gut wie tot" (Zb 925, 26). 2. Eine Art Parallelführung zeigt sich in dem ersten Gespräch Castorps mit Dr. Krokowski und im Gespräch Hiobs mit seinen Freunden: Hiob betont: "Ich bin unschuldig"! (Hiob 9, 21; 10, 7 u.a.). Seine Freunde sind der Ansicht, dass es einen Menschen ohne Schuld nicht gibt (Hiob 4, 17-19; 15, 14-16; 25, 4-6). Auf die Frage Dr. Krokowskis, ob Castorp als Patient komme, antwortet Castorp, "daß er,gottlob, ganz gesund sei" (Zb 31, 10f.). Krokowski: "Aber dann sind Sie eine höchst studierenswerte Erscheinung! Mir ist nämlich ein ganz gesunder Mensch noch nicht vorgekommen" (Zb 31, 14ff.). Er wünscht Castorp einen guten Schlaf "im Vollgefühl Ihrer untadeligen Gesundheit" (Zb 31, 30f..). 3. Dem Schuldbekenntnis Hiobs gegenüber Gott (Hiob 42) entspricht die Bitte Castorps um Verzeihung gegenüber dem toten Ziemßen (Zb 1033, 22) und seine Beichte im Gespräch mit Peeperkorn (Zb 925, 16-26). 4. Unerwartet wird am Schluss des "Zauberbergs" Castorp "sündiges Sorgenkind" (Zb 1079, 9f.) und "Sünder" (Zb 1079, 13) genannt. Offensichtlich wird hier an die Unterhaltung Hiobs mit seinen Freunden angeknüpft. Ein Hinweis darauf ist das "gottlob" im obigen Gespräch Castorp - Dr. Krokowski (Zb 31, 11). Castorp wird zudem befreit durch "göttliche(r) Güte und Gerechtigkeit" (Zb 1079, 8f.). 5. Hiob wird von Gott angenommen (Hiob 42). Im "Zauberberg" wird Gott ersetzt durch das "Leben" (Zb 1079, 9f.). Während Gott Hiob alles wieder doppelt zurückgibt und er "alt und lebenssatt" sterben kann (Hiob 42), nimmt das "Leben" Castorp wohl nicht wieder an, sondern sucht ihn heim durch einen erwartbaren Tod im Weltkrieg.
Anmerkungen:
1. Thomas Mann Der Zauberberg, Bd. 5/1 (Textband)-2 (Kommentarband)-M. Neumann-der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. Hervorhebungen durch Fettdruck vom Autor. Abk.: Zb. Stuttgarter Erklärungsbibel (Übersetzung Martin Luther). Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Nachdruck 1992: Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart. 2. Ihre "wasserblauen" Augen (Zb 254, 15f.), der Hinweis auf Bonn am Rhein (Zb 96, 13) stellt neben dem Vornamen "Adriatica" den Bezug zum Lebensbereich Wasser des Krokodils her.