Castorps "Gefräßigkeit" richtet sich nicht nur auf gutes Essen, sondern auch auf geistige Genüsse. Wie Dante bietet Thomas Mann Zugang zu den verschiedensten Problemen, vor allem durch die intellektuellen Auseinandersetzungen zwischen Settembrini und Naphta. (13) Castorp ähnelt einer Gestalt Dantes: Comestor ("Vielfraß": Pietro Mangiadore: Par XII, 134). (14) Ein anderes Beispiel für die Sünde der Gefräßigkeit ist Ciacco (Inf IV, 52ff.) (15)
2. Auch mit der Figur des trägen, sitzenbleibenden, "philosophierenden" Belacqua,eines Jugendfreundes Dantes (Purg IV, 106 - 135), ist Castorp verwandt (etwa Zb 94, 4f.). (16) Eine Abwertung irdischer Tätigkeiten überhaupt findet sich in Par XI, 1 - 12.
3. Settembrini weist Castorp ironisch dem zweiten Höllenkreis (Inf V, 1 - 142) zu, "der die Fleischessünder prellt und schwenkt, die Unseligen, die die Vernunft der Lust zum Opfer brachten". (Zb 539, 32f.). Bei Dante ist dies die Todsünde der Wollust. Naphta wird als "Wollüstiger" im Sinne eines Epikuräers (Luxuswohnung) charakterisiert (Zb 619, 32 - 621, 14).
4. Auch an die Neugier Castorps (Zb 1010, 22) hinsichtlich übernatürlicher Dinge ist zu denken. Bei der Séance mit Holger hatte man "die Hölle" versucht (Zb 1009, 21). Castorp will es "bei diesen wenigen Flecken Höllenfeuers" (Zb 1010, 25ff.) bewenden lassen. Auch eine Zuordnung zu den "Gewalttätigen gegen Gott und Naturr" im 3. Ring des 7. Kreises kommt in Betracht. Bei Dante büßt schon Odysseus seine grenzenlose Wissbegier (Inf XXVI, 85 - 142). In der Odysseusrede an seine Genossen findet sich eine Erklärung des Schiffsuntergangs: "com´altrui piacque" (Inf XXVI, 141): Wie es einem anderen (sc. Gott) gefällt. Es ist wie eine Antwort auf die Maxime im "Zauberberg" : "Placet experiri". (17)Settembrini deutet die Metapher "Schiffsreise" (Zb 537, 26 - 539, 21). Die Nähe zu Dante ist offensichtlich (Zb 539, 12f.: italienisches c; 539, 31 - 540, 3.: "Wirbelsturm des zweiten Höllenkreises"- Inf V, 31.142). Die Neugier kulminiert in der Hybris, die in der "Totenbeschwörung" Joachims (Zb 1025, 6 - 1034, 6) liegt. Hybris ist das zentrale Verschulden Luzifers. Die Séancen sind weitere "Sünden unter dieser "Grottendecke des Sündenberges" (Zb 1079, 16. 9f. 13; Purg III, 90: "grotta" = Fels).
D Der tiefste Höllengrund bei Luzifer ist nach Dante für die "Verräter" vorgesehen.Ist Castorp ein "Verräter"? 1. Ein Ansatzpunkt kann sein, dass Castorp den lateinischenBegriff "virtus" herausstellt (Zb 156, 1 - 6). Settembrini "schwärmt" fürs Arbeiten (Zb 101, 1; 151, 23 - 33) und will Castorp zur Arbeit bringen. Es gelingt ihm nicht (Zb 1080, 9: "Zur Arbeit hoffte ich dich zu entlassen ..."). Nun ist bei Dante "virtù" ein zentraler Begriff in vielen Bedeutungsschattierungen. (18)Die "Schönheit" Beatrices führt Dante zur "Tugend" (Par XVIII, 52 - 69). Schon früher redet Virgil sie an mit "O donna di virtù" (Inf II, 76). Chauchat dagegen "verhindert" die Abreise Castorps in ein Leben der "Arbeit am Fortschritt". Dafür ist Castorp geradezu prädestiniert durch Herkunft und den Beruf des Schiffbauingenieurs. Castorp lebt also ein "falsches Leben" und verrät seine wahre Bestimmung, ein Vorwurf, den Settembrini schon früh macht (Zb 302, 5f.; 377, 24f.). Er ruft Castorp zur "vita activa" auf, es ist ein "Aktivitätskommando" (Zb 980, 24f.; vgl. Virgils Mahnung an Dante: Inf XXIV, 46 - 54). Castorp fehlt die virtus, das "Pflichtbewusstsein", wie es etwa in Dantes Rede des Odysseus gefordert wird (Inf XXVI, 118ff.). 2. In einem der drei Mäuler Luzifers hängt Judas Ischariot (Inf XXXIV, 62f.), der bekanntlich nach den Evangelisten und Dante (etwa Purg XXI, 84) Christus verriet. Hatte Thomas Mann bei der Wahl der Zimmernummer 34 nicht nur das traditionelle Todesjahr Christi im Blick, sondern gezielt den "Christusverräter"? (19) Überliefert ist, dass Judas Ischariot sich nach dem Verrat umgebracht hat (die Verräter Brutus und Cassius nach verlorenen Schlachten). Behrens erinnert daran: Er schildert dem Besucher James eindrücklich, wie es Judas Ischariot geht, "als er vom Ast fiel" (Zb 661, 2f.). Auch Settembrini nimmt Bezug auf Judas Ischariot (Zb 1011, 30ff. ; Stichwort "Mühlstein", s. Mylendonk!). Castorp mit dem Vorwurf eines "Selbstmörders" zu belegen, erfordert große interpretatorische Freiheit. Seine wohl "freiwillige" Teilnahme - er gilt ja als krank (s. seine Musterung) - am 1. Weltkrieg könnte so ausgelegt werden, dass er nach einem "vergeudeten" Leben den Tod in der Schlacht sucht.
3. In den Beiträgen konnten wir immer wieder festzustellen, dass viele Bergbewohner einen jüdischen Hintergrund haben. "Brotsack" Castorp könnte also mit Zimmernummer 34 gezielt in die Nähe des Danteschen Judas Ischariot wegen seiner jüdischen Herkunft gebracht worden sein. Neben seinem hebräisch rückwärts gelesenen "jüdischen" Namen"Brotsack" und seine Verwandtschaft (etwa "abstehende Ohren" seines Vetters, Zb 16, 11) weist auch die Farbe "Gelb" darauf hin: Schon der Wagen, mit dem Castorp abgeholt wird, ist gelb (Zb 17, 6). (20) Castorp wäre dann "Stellvertreter" von Judas Ischariot, der nach bekanntem Klischee Inbegriff "des Juden" ist. Die Taufe, die "Konversion", wie sie ausführlich durch das Taufbecken dargestellt wird, nützt Castorp nicht, diesem "Makel" zu entkommen. Sein "pneumatisches" Defizit bleibt, unterstrichen durch die Umgebung eines "Lungensanatoriums". Erwähnenswert hier auch der Siegelring Castorps in der Röntgenszene (Zb 333, 10). Die Prägung ("Siegel") bleibt (vgl. Par VII, 67ff.), ein Ring "sitzt" (Par XXXII, 57). Auch an das öfters genannte "Ur" ist zu denken (21)- Castorp weist damit eine Nähe zur Gestaltung der Figur Naphtas auf, der allerdings selbst vom Judentum zum Christentum konvertiert ist.
E. Hinweise Castorp entwirft ein negatives Sittenbilkd seiner Vaterstadt Hamburg (Zb
301, 1 - 25: "grausame Luft, da unten, unerbittlich "). Das Laster der
Habgier wird hervorgehoben. Auch Dante tadelt einzelne Städte und
Landschaften wegen negativer Eigenschaften: Florenz ist bekannt
durch wucherische Geschäfte, überhaupt verrufen (Inf XVI, 9: "terra
prava"). Florenz ist "habgierig" (Inf XV, 68), ein "Riesennest der
Bosheit" (Inf XV, 78). Dante trifft Diebe aus Florenz (Inf XXVI, 7).
Bürgern von Siena wird "Eitelkeit" und "Verschwendungssucht" unterstellt
(Inf XXIX, 121 -132). Bologna ist die Stadt der Kuppelei (Inf XVIII, 58
- 66), vielleicht Anregung dafür, dass Behrens "kein Hüttchenbesitzer"
(Zb 628, 8; 631, 23), "kein Kuppelonkel", "kein Signor Amoroso auf dem
Toledo im schönen Neapel" sein will (Zb 631, 32f.). Näher mag ein Bezug
zu Brunetto Latini vorliegen, der sich am verrufenen Hofe Alfons X. in Toledo aufhielt. (22)
Schon die Anfahrt Castorps erinnert an den gefährlichen Weg Dantes ins Jenseits.
Castorps Weg führt über "Schlünde" (Zb 11, 11), "stockfinstere Tunnel",
Abgründe in der Tiefe, "Engpässe mit Schneeresten in ihren Schründen
und Spalten" (Zb 13, 31 - 14, 1). Der "Gedanke(n) des Aufhörens" stellt
sich ein (Zb 14, 11). Die Gefahr im Walde (Inf I, 1 - 12), die
Schwierigkeit des Weges (Inf I, 26.29; Inf II, 12. 62f.120.142) und der
Gedanke an Umkehr (Inf II, 4f., 37 - 42) bedrücken schon Dante. Nach dem
Besuch des Restaurants schläft Castorp "eigentlich" schon (Zb
29, 26 - 33). Beim Gehen wird er "von Müdigkeit förmlich zu Boden
gezogen" (Zb 30, 1f.; vgl. Purg XIX, 40ff.). Dante ist voll Schlafs, als
er vom wahren Weg abkommt (Inf I, 10ff.), auch vor der Fahrt über den
Acheron schläft er ein (Inf III, 136; IV, 1). Dante und Castorp betreten
ein "Schattenreich" (Inf II, 44: "ombra"; III, 59; IV, 55 passim; Zb 90, 25f.; 91, 28; 1075, 21f.). Die Schatten haben ein Interesse daran, Neuangekommene
zu befragen. Castorp erzählt seinem Vetter von der Elbregulierung (Zb
28, 11 - 20).
Settembrini sagt im Scherz zu Castorp: >> Was
höre ich? Was kommt mir gerüchterweise zu Ohren? Ihre Beatrice kehrt
wieder? Ihre Führerin durch alle neun kreisenden Sphären des Paradieses
(Purg XXVIII - XXX)? Nun, ich will hoffen, daß Sie auch dann die
leitende Freundeshand Ihres Virgil nicht ganz verschmähen werden! Unser
Ekklesiast hier (sc. Naphta) wird Ihnen bestätigen, daß die Welt des
medio evo (sc. Dantes Zeitalter) nicht komplett ist, wenn
franziskanischer Mystik (Par XII, 127ff.) der Gegenpol thomistischer
Erkenntnis (Par XI, 118 - 139; Par XIII, 31 - 111) fehlt. << (Zb 783, 9 - 16). Wenig später wird Dante von Naphta genannt (Zb 783, 30). Das Hauptpersonal des "Zauberbergs" wird hier also an Dante festgemacht. Der Vergilkenner Settembrini vergleicht sich in seiner Funktion Castorp gegenüber mit Virgil:
Dieser führt Dante durch die Hölle und auf den Läuterberg bis zum
Irdischen Paradies. Virgil hat damit seinen Auftrag erfüllt (Purg XXVII,
129; Inf I, 121f.). Beatrice löst ihn ab (Purg XXX, 32). Von ihr
übernimmt Settembrini den pädagogischen Impetus (Par V, 85). Settembrini attackiert verbal Clawdia Chauchat, wie Virgil gewalttätig die "Sirene" im 2. Traum Dantes im Purgatorium (Purg XIX, 7 - 33: "Sirenentraum"). Castorp träumt "zweimal" (=Doppelgestalt der Frau bei Dante) von Chauchat und ihrem Gehen, ihren Hände und ihrer Haut (Zb 141, 28 - 142, 12).
Clawdia Chauchat wird mit Beatrice gleichgesetzt. Castorp
kommt mit dem Bilde des "geliebten" Mitschülers Hippe auf den Berghof
und erkennt ihn in Chauchat wieder. Dante "trifft" die schon seit seinen
Jugendjahren geliebte und verstorbene Beatrice wieder. Die Liebe zu
Chauchat bringt Castorp dazu, sieben Jahre im Sanatorium zu bleiben,
während Dante auf seiner Jenseitswanderung in Bewegung bleibt. In beiden
Werken ist die Liebe zentrales Motiv, es sind auch "Liebesromane".
(23) Während aber Dante am Schlusse der "Commedia" dank der Hilfe
Beatrices seliges Glück erlebt, wird Castorp - von Chauchat schon lange
endgültig verlassen - in die "Hölle" des 1. Weltkriegs geführt. Die Hure Thais hat "kotige Fingernägel" ("unghie
merdose"). Ihr Freier fragt sie, ob er Chancen bei ihr hätte. Sie bejaht
übertrieben (Inf XVIII, 131 - 135). Chauchat fragt Castorp, warum er
sie nicht schon früher angesprochen hätte (Zb 514, 1f.). Bekanntlich
sind Chauchats Nägel ungepflegt (Zb 119, 11 - 15). Sie hat aber nicht
nur ungepflegte Hände, sondern auch "freie Manieren" ( Zb 760, 18) und
freie moralische Vorstellungen (Zb 512, 26 - 29; 515, 23 - 33).
Die Unterhaltung Castorp - Chauchat erfolgt in
französischer Sprache (Zb 508, 7 - 520, 26). Eine Passage in fremder
Sprache findet sich bei Dante (Purg XXVI, 141 - 147).
Settembrini lobt Brunetto Latini, den Lehrer
Dantes und Verfasser eines Rhetoriklehrbuches in den höchsten Tönen
(Zb243, 5 . 11). Überraschend ist nun, dass sich Latini bei Dante auf
dem dritten Ring des siebten Kreises, dem Platz der Homosexuellen
("Sodomiten") befindet (Inf XV, 30; V, 114). Hieraus ist zu errklären,
warum das "Hinterherpfeifen" einem vorbeigehenden Mädchen durch
Settembrini mehrmals erwähnt wird (Zb 97, 4 - 11; 101, 3f.; 568. 22f.).
Seine sonstige Frauenfeindschaft und seine Mentorenrolle gegenüber
Castorp sollen keinen falschen Verdacht aufkommen lassen. Settembrini
hegt "eine politische Abneigung gegen die Musik" (Zb 174, 3f.). Cato
Uticensis, der Wächter am Ufer des Läuterungsberges, scheucht die Seelen
weg vom genussvollen Musikhören (Par XXVII, 3).
Selbstmord und "Bäume" hängen bei Dante zusammen (Inf XIII, 79 - 110). Die Seelen der Selbstmörder werden von Minos dem siebten Höllenschlund zugewiesen, für den genauen Ort sorgt der Zufall ("fortuna"; auch Inf VII, 61 - 96). Dort wachsen sie zu Bäumen aus. Im "Zauberberg" ist es nicht nur Judas Ischariot, der sich so nach Behrens ums Leben bringt: Joachim erzählt von einem Studenten, der sich im Wald erhängt hat (Zb 127, 5 - 8). Sieht man den Danteschen Zusammenhang Selbstmord - Baum, wird die Wahl des Namens "Albin" - l´arbore = Baum - verständlich. Albin (24), der den Selbstmord nur ankündigt, lässt sich darüber aus, wie seine Pistole am besten zu "deichseln" ist (Zb 123, 25). Hofrat Behrens verschweigt Albins Gesundheitszustand nicht (Zb 124, 21ff.). Albin kommt zum Entschluss sich umzubringen, weil "es unnütz ist, dem Schicksal in die Speichen zu fallen" (Zb 124, 18f.; Inf IX, 97). "Schicksal" (fortuna), "Speichen" und "deichseln" scheinen auf Dante zu deuten: In Purg XXXII ist wiederholt von "Deichsel" die Rede ("legno", "temo": Verse 24, 49, 140, 144). Dante will sein Schicksal ("Fortunas Rad") aushalten (Inf XV, 91 - 96). Bei Dante stammt diese Deichsel von einem kahlen Baum, der keine Zweige und Blätter mehr hatte - Sinnbild für ein desaströses Leben (Purg XXXII, 38f.; 49ff.). Albin erzählt von einem Zauberer in Kalkutta (Zb 122, 9 - 12). Kalkutta liegt am Ganges, der bei Dante genannt wird (Purg XXVII, 4). Der eben genannte kahle Baum würden selbst die Inder wegen seiner Höhe bewundern (Purg XXXII, 40ff.). Dante verweist auf Alexander in Indien (Inf XIV, 32).
Über einen Pater Unterpertinger kommt Naphta in ein österreichisches Pensionat der societas Jesu, genannt "Morgenstern" (Zb 667, 6) oder "Stella matutina" (Zb 688, 24). Luzifer als "(gefallener) Morgenstern" bringt auch Naphta mit Luzifer in Verbindung. Im Rahmen seiner Ausbildung wird er zum "Teufelsbeschwörer"
geweiht (Zb 672, 19). Die "Eleganz des kleinen Naphta", seine guten
wirtschaftlichen Verhältnisse, sind "sozusagen des Teufels" (Zb 910, 28ff.).
Frau Stöhr erzählt von "Frostbeulen", die man grausam bis aufs Blut kratzen kann und "wenn man zufällig in den Spiegel sähe dabei, dann sähe man eine Teufelsfratze" (Zb 264, 10 . 15). Eine Verbiondung Juckreiz - Fisch ("Stöhr") findet sich bei Dante (Inf XXIX, 79 . 84).
Der erste von sieben Grenzwächtern bei Dante ist Charon, der die Toten über den Acheron setzt (Inf III, 82 - 87). Der Name Ferge ("Fuhrmann", vgl. Zb 190, 4) erinnert daran. Darüber hinaus berührt er bei seiner Operation die "Hölle" (Zb 471, 6). Es ist ein "infernalisches Abenteuer"
(Zb 681, 26f.). Dabei fällt er in eine grüne, eine braune und eine
violette Ohnmacht (Zb 471, 2f.). Auch die drei Gesichter Luzifers sind
verschiedenfarbig: rot, gelblich-weiß und schwarz (Inf XXXIV, 39 - 45).
Der Leser erinnert sich an die dreifarbige Rauchmasse des "Fahrzeugs"
Lokomotive (Zb 13, 27f.).