Spuren im "Zauberberg": Augustinus, Confessiones (um 400) / Zeit
Die Augustinische Zeitanalyse ("confessiones" Buch XI, Kapitel 14 bis 28) könnte eine Vorlage für die Zeitdiskussion im "Zauberberg" sein (1). Die Ausgangfrage: "Was ist denn die Zeit" (Zb 103, 13f.; 521, 3) ist eine direkte Übersetzung der Frage Augustins : "Quid est enim tempus?" (conf XI, 17, 23, 32). Eine ganze Reihe von Stellen beschäftigt sich explizit mit der Zeit. (2) .Der "Zauberberg" ist aber auch noch in anderer Hinsicht ein "Zeitroman" (Zb 818, 9, 26f.): Der Roman ist engmaschig "kalendarisch" strukturiert. (3)
Bei Augustin und Thomas Mann werden alltägliche und philosophische Erörterungen über die Zeit vermischt. Schon beim Restaurantbesuch kommt die Zeit in den Blick (Zb 27, 26- 30; 29, 32). "Keine Zeit" gibt es nach Augustin, wenn sie noch nicht erschaffen ist. Zeitlos ist die Ewigkeit. Der Auftakt klingt harmlos: "Aber was ist uns in unseren Alltagsreden vertrauter und bekannter als die Zeit?" / Quidautem familiarius et notius in loquendo commemoramus quam tempus? (conf XI, 17) Castorp fragt, wie lange denn Ziemßens Messung mit dem Thermometer dauere (Zb 102, 5). Ziemßen erklärt: "Ja, wenn man ihr aufpaßt, der Zeit, dann vergeht sie sehr langsam". (Zb 102, 11f.) Die Zeit kann einem kurz oder lang vorkommen. Niemand weiß, "wie lang oder kurz sie in Wirklichkeit ist" (Zb 102, 21f.). (4) Für das Bewußtsein - ein besonderes Zeitorgan gibt es nicht (Zb 819, 21) - läuft die Zeit nicht "gleichmäßig" ab. Die Zeit vergeht gefühlsmäßig langsam (z.B. "wenn man ihr aufpaßt") oder schnell (Zb 102, 11f.30.33f.; 103, 25f.). Auch Augustin verweist auf das "Aufpassen": "(Aber) wir messen die vorübergleitenden Zeiträume aufgrund von Wahrnehmung" / (sed) praetereuntia metimur tempora, cum sentiendo metimur (conf XI, 21. 37). Castorp: "Eine Minute ist also so lang, wie sie dir vorkommt, wenn du dich mißt?" (Zb 102, 29f.). Ziemßen: "Eine Minute ist so lang ..., sie dauert so lange, wie der Sekundenanzeiger braucht, um seinen Kreis zu beschreiben" (Zb 102, 31f.).
Die Dauer, in der diese Bewegung des Sekundenzeigers stattfindet, soll also die Zeit einer Minute sein. Castorp: "Wir messen also die Zeit mit dem Raume. Aber das ist doch ebenso, als wollten wir den Raum an der Zeit messen, - was doch nur ganz unwissenschaftliche Leute tun. Von Hamburg nach Davos sind zwanzig Stunden, - ja mit der Eisenbahn. Aber zu Fuß, wie lange ist es da? Und in Gedanken? Keine Sekunde!" (Zb 103, 5 - 10). Weiter führt Augustin (conf XI, 31): "Können wir allerdings die räumlichen Abstände feststellen, woher ein bewegter Körper oder seine Teile kommen und wohin sie gehen - oder wenn wir dies für markante Teile des Körpers feststellen, wenn er sich zum Beispiel um seine Achse dreht (vgl. den "messenden Rundlauf" der Taschenuhr Castorps: Zb 1074, 21; der Woche: Zb 436, 9f.) - dann können wir sagen, wie lange der Körper gebraucht hat, um sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. Die Bewegung des Körpers ist also etwas anderes als das Maß, womit wir ihre Dauer messen. Das sieht doch wohl jeder ein, welches von beiden wir >Zeit<. nennen sollen. Schließlich, wenn ein Körper abwechselnd sich bewegt und ruhen kann, dann messen wir nicht nur seine Bewegung, sondern auch seine Ruhe aufgrund der Zeit ...Also ist die Zeit nicht die Körperbewegung". Gemessen werden Bewegungen (und Ruhe) also mit einem externen Maß, mittels der Zeit. (5)
"Wie messe ich die Zeit selbst?" (Zb 103, 23) / Ipsum ego tempus unde metior? (conf XI, 33) Ziemßen: "Ich habe das Messen , viermal am Tage, ordentlich gern, weil man doch dabei merkt, was das eigentlich ist: eine Minute oder gar ganze sieben, - wo man sich hier die sieben Tage der Woche so gräßlich um die Ohren schlägt". "Du sagst "eigentlich". "Eigentlich" kannst du nicht sagen", entgegnete Hans Castorp" (Zb 102, 11 - 17). Die Frage Castorps nach dem "Eigentlichen" der Zeit ist die Frage nach dem Wesen der Zeit, und die ist mit dem Messen nicht beantwortet. "Um meßbar zu sein, müßte sie (sc. die Zeit) doch gleichmäßig ablaufen, und wo steht denn das geschrieben, daß sie das tut? Für unser Bewußtsein tut sie es nicht, wir nehmen es nur der Ordnung halber an, daß sie es tut, und unsere Maße sind doch bloß Konvention, ..." (Zb 103, 23 - 27). "Die Zeit hat in Wirklichkeit keine Einschnitte, es gibt kein Gewitter oder Drommetengetön beim Beginn eines neuen Monats oder Jahres, und selbst bei dem eines neuen Säkulums sind es nur wir Menschen, die schießen und läuten" (Zb 343, 6 - 10).
Ziemßen kommt auf die Musik: Musik "füllt ein paar Stunden so anständig aus, ich meine: es teilt sie ein und füllt sie im einzelnen aus, so daß doch etwas daran ist ..." (Zb 174, 33ff.; 816, 10 - 16; 818, 15; 821, 1ff.). Settembrini stimmt Ziemßen zu: Musik verleiht "dem Zeitablaufe durch eine ganz eigentümlich lebensvolle Messung Wachheit, Geist und Kostbarkeit ... Die Musik weckt die Zeit, sie weckt uns zum feinsten Genusse der Zeit ..."(Zb 175, 15 - 18), bewirkt aber auch das Gegenteil (Zb 175, 19 - 28). Der Ton einer Stimme (conf XI, 34), eines Verses mit
seinen kurzen und langen Silben (conf XI, 35) und das Schweigen (conf
XI, 36) wie auch die Erklärung, was beim Singen eines Liedes passiert
(conf XI, 38), bringt Augustin zum Ergebnis: "So kam ich zu der Ansicht,
Zeit sei nichts anderes als eine Art Ausdehnung (distentio). Aber
Ausdehnung von was? Das weiß ich nicht, aber es wäre erstaunlich, wäre
es nicht die des Geistes selbst" / inde mihi visum est nihil esse aliud
tempus quam distentionem: sed cuius rei, nescio,et mirum, si non ipsius
animi (conf XI, 33).