Im Abschnitt "Ewigkeitssuppe und plötzliche Klarheit" erfasst Thomas Mann eine "alltägliche" Zeiterfahrung mit Begriffen aus der Ewigkeitsdiskussion Augustins. Aus Gründen der Übersichtlichkeit soll diese Stelle hier wiedergegeben werden (Zb 279, 25 - 280, 13); "und es mag nützlich sein, den Leser in Ansehung des Zeitgeheimnisses auf noch ganz andere Wunder undPhänomene als das hier auffallende vorzubereiten, die uns in seiner (sc. Castorps) Gesellschaft zustoßen werden. Für jetzt genügt es, daß jedermann sich erinnert, wie rasch eine Reihe von Tagen vergeht, die man als Kranker im Bett verbringt: es ist immer derselbe Tag, der sich wiederholt; aber da es immer derselbe ist, so ist es im Grunde wenig korrekt, von >>Wiederholung<< zu sprechen; es sollte von Einerleiheit, von einem stehenden Jetzt oder von der Ewigkeit die Rede sein. Man bringt dir die Mittagssuppe, wie man sie dir gestern brachte und sie dir morgen bringen wird. Und in demselben Augenblick weht es dich an - du weißt nicht, wie und woher; dir schwindelt, indes du die Suppe kommensiehst, die Zeitformen verschwimmen dir, rinnen ineinander, und was sich als wahre Form des Seins dir enthüllt, ist eine ausdehnungslose Gegenwart, in welcher man dir ewig die Suppe bringt. Mit Bezug auf die Ewigkeit aber von Langerweile zu sprechen, wäre sehr paradox; und Paradoxe wollen wir meiden, besonders im Zusammenleben mit diesem Helden".
1. Wir sehen in der Zweiteilung Wunder - Phänomen einen Hinweis auf die Zeitdiskussion bei Augustin, in der er zunächst die Ewigkeit von unserer "alltäglichen" phänomenalen Zeit begrifflich aufschließt, um sich dann ganz der Zeit des Menschen zuzuwenden (conf XI). 2. "Es gibt drei Zeiten, die Gegenwart von Vergangenem, die Gegenwart von Gegenwärtigem und die Gegenwart von Zukünftigem. Denn diese drei sind in der Seele in einem gewissen Sinne, und anderswo finde ich sie nicht" / tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haec in anima tria quaesam et alibi ea non video (conf XI, 26). Augustin ist der Ansicht, dass wir Menschen in der Lage sind, die Gegenwart zu dehnen durch Erinnerung an Vergangenes (memoria), die Gegenwart durch Anschauung (contuitus), das Zukünftige durch Erwartung (expectatio) (conf XI, 26). Diese "Dehnung" nennt Augustin "distentio animi" (conf XI, 33), also Dehnung im Geist. Diese Begrifflichkeit nimmt der "Zauberberg" verdeckt auf. Nicht nur auf "distentio" wird bei "ausdehnungslos" in unserem Text hingewiesen, sondern auch auf "animus". Denkt man daran, dass die Grundbedeutung von "animus" (und anima) mit "Wind, Hauch" zu tun hat, können wir im Kontext des "Zauberbergs" eine Anspielung erkennen: "Und in demselben Augenblick weht es dich an - du weißt nicht, wie und woher" (Zb 280, 5f.). 3. Beim "stehenden Jetzt" gibt es keinen Übergang des Jetzt in das Nicht-mehr-Jetzt und des Noch-nicht-Jetzt in das Jetzt. Die Zeitformen Vergangenheit - Zukunft "verschwimmen" (statt "verdrängen sich": wohl dem Bild der "Suppe" geschuldet) nicht in dem "stehenden Jetzt", sondern dieses Jetzt erscheint dem Kranken als überzeitliches, ewig Gegenwärtiges (vgl. auch Zb 1074, 26). Augustin differenziert dagegen: "Und dein (sc. Gottes) Tag ist nicht irgendein Tag, sondern ist das Heute, weil dein Heute nicht dem Morgen weicht und nicht dem Gestern folgt. Dein Heute ist die Ewigkeit" / et dies tuus non cotidie, sed hodie, quia hodiernus tuus non cedit crastino; neque enim succedit hesterno. Hodiernus tuus aeternitas (conf XI, 16). Hinsichtlich des Seins ist nicht nur das Vergangene ("nicht mehr") und Zukünftige ("noch nicht"), sondern auch die Gegenwart als "Jetztmoment" (in demselben Augenblick) zwar wirklich, aber ausdehnungslos ohne bleibendes Sein (conf XI, 18 - 20). Dagegen kennt die beständige "ausgedehnte" Gegenwart Gottes ("nunc stans") kein "Fließen" der Zeiten im "Glanz der immer stehenden Ewigkeit" / splendor(em) semper stantis aeternitatis (conf XI, 13). 4. Von einer "Langerweile" kann man deshalb nicht sprechen, weil das "stehende Jetzt" eben keinem Nacheinander ausgeliefert ist, was eine "lange Zeit" voraussetzt, sondern "zugleich" besteht: "Es (sc. das Herz) soll sehen, dass eine lange Zeit nur aus vielen kleinen Zeitspannen besteht, die vorübereilen und nicht gleichzeitig sein können. Im Ewigen aber geht nichts vorbei, dort ist das Ganze gegenwärtig, während keine Zeit ganz gegenwärtig ist" /...videat longum tempus nisi ex multis praetereuntibus morulis, quae simul extendi non possunt, longum non fieri; non autem praeterire quidquam in aeterno, sed totum esse praesens (conf XI, 13). Paradox wäre es, "Mit Bezug auf die Ewigkeit aber von Langerweile zu sprechen" (Zb 280, 10f.). In der Ewigkeit gibt es also keine "lange Weile" (longum tempus), weil eine lange Zeit aus dem Nacheinander, der Folge von "nicht mehr" und "noch nicht" entsteht , "aus vielen vorübergehenden Bewegungen" / ex multis praetereuntibus motibus. 5. Das Bringen der Suppe kann in der "ausdehnungslosen Gegenwart" tatsächlich erfahren werden, die "wahre Form des Seins" enthüllt sich im Bewußtsein (conf XI, 27). Der Kranke wird in seiner "jetzigen" Anschauung angeschwindelt, dass ihm nur noch "ausdehnungslos" die Gegenwart von Gegenwärtigem, die "jetzige" Anschauung des Bringens der Suppe bleibt, in reiner Identität (nicht als Wiederholung oder Einerleiheit), als "wahre Form des "Seins".Es "sollte ...von einem stehenden Jetzt oder von der Ewigkeit die Rede sein" (Zb 280, 2f.; auch Zb 825, 31f.). Statt Vergehen der Zeiten verharrt die Zeit im Sein wie die Ewigkeit .6. Die "expectatio" (Erwartung) wird durch die Hereinnahme "ewiger Zeit" bei Kranken auf den Tod hin erweitert. (6)